Rezension zu »Oben in den Wäldern« von Daniel Mason

»Sie hat festgestellt, dass man nur auf zweierlei Weise die Welt sehen kann: als Geschichte des Verlust oder als Geschichte des Wandels.« 

Es gibt Bücher, bei denen fällt es schwerer als bei anderen, Worte für sie zu finden. Vor allem bei Krimis kämpfe ich damit, weil die Spannung so viel Raum einnimmt und man doch mit der Besprechung den Rätselspaß nicht gefährden möchte. Auch bei der Rezension zu »Oben in den Wäldern« hatte ich zu kämpfen, aus ganz anderen Gründen. Vielleicht hat es deswegen ein viertel Jahr zwischen der Lektüre und diesen Worten gebraucht. Oft habe ich es in die Hand genommen, es versucht, und dann doch keine Worte gefunden, die dieser Geschichte gerecht werden konnten. Denn ich habe noch kein Buch wie dieses gelesen. Ein vielschichtiger, polyphoner Roman, der Jahrhunderte in sich fasst, immer ortsgebunden, unzählige Leben begleitet und dabei eine derart faszinierende Kombination verschiedenster Genres, Perspektiven und Erzählstränge schafft, dass man einfach nur staunen kann und muss. Heute versuche ich es, bin nachsichtig mit mir, weil ich doch will, dass ihr dieses wunderbare Buch in die Hand nehmt, ihm die verdiente Aufmerksam zukommen lasst.

Irgendwo in den Wäldern von Massachusetts steht ein Haus. Dort stand es vielleicht schon immer. Es gibt Orte, die Zeiten und Menschen überdauern. Dieses Haus ist so ein Ort. Ein Ort, der Geschichten vereint und sammelt, auf seine Art und Weise konserviert. Wie viel erlebt ein Haus über die Jahrhunderte? Was wird zerstört, was entsteht neu, welche Menschen kommen und gehen wieder? Was bleibt, am Ende von allem? Sind es Geschichten, sind es Gefühle, sind es Momente oder das große Unbekannte, das als sanfter Wind durch das Geäst des Waldes ruft? So tauchen wir ein, begegnen den verschiedensten Menschen, in den verschiedensten Momenten, Zeiten, Phasen ihres Lebens. Glückliche Menschen, und unglückliche auch. Zeiten der Ruhe und Zeiten des Krieges. Die Geschichte eines Hauses, zeitgleich die Geschichte einer Menschheit, die Geschichte Amerikas. Wir streifen Kriege, Zerstörung, Hass, Kolonialismus, Unterdrückung und Wut. Wir streifen Neuanfänge, Liebe, Wiederaufbau, Familie und zweite Chancen. Wir streifen Leben, das wie die Wurzeln eines Apfelbaumes immer wieder Wege findet, zu wachsen, weiterzumachen.

In diesem Roman kommen so viele Personen zu Wort. In Tagebucheinträgen, in Gedichten, in Briefwechseln, in Erzählungen, in botanischem Wissen. Einzelne Leben aus einzelnen Epochen, eine jede Stimme erhält dabei eine individuelle, einzigartige und passende Stimme. Mal kurz, mal lang. Mal Prosa, mal Lyrik, mal Slave Narrative, mal Suspense, mal übernatürlich. Die Geschichte eines Ortes, die Magie, die dahinter steckt, das große Ganze, das auf überraschende, unerwartete und doch so richtige Art ein Ende schafft, das doch nur ein weiterer Neuanfang ist. Es ist eine Rezension der anderen Art, für ein Buch der anderen Art. Wenn ihr euch auf »Oben in den Wäldern« einlasst, werdet ihr etwas Besonderes lesen. Etwas, das euch berühren wird auf eine Art, für die euch vielleicht wie mir die Worte fehlen werden. Vielleicht findet ihr sie aber auch, dann lasst es mich wissen. 

Irgendwo in den Wäldern von Massachusetts steht ein Haus. Vielleicht steht es noch immer dort. Geduldig wartend auf das nächste Kapitel einer unendlichen Geschichte.




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Daten zum Buch
Titel: Oben in den Wäldern
Autor*in: Daniel Mason
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Cornelius Hartz
Verlag: C. H. Beck
Hardcover | 429 Seiten | ISBN: 978-3-406-81381-8

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