Rezension zu »Prima Facie« von Suzie Miller
»So geht es vielen Frauen. Am besten vergessen sie es.«
Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen eröffnet sich Tessa mit ihrem Stipendium in Cambridge eine neue Welt. Eine Welt voller Möglichkeiten, Aufstieg und Macht. Eine Chance, die sie bereit ist, mit beiden Händen zu ergreifen. Inzwischen, Jahre später, lebt sie dieses Leben, von dem sie früher nur träumen konnte. Als kompetente, gefragte und aufstrebende Strafverteidigerin ist Tessa Teil eines elitären Systems und hat längst gelernt, sich anzupassen und ihre Herkunft zu verstecken. Denn in der prestigeträchtigen Welt der Londoner Anwält*innen-Szene zählt Herkunft mehr als Können. Doch mit Können glänzt Tessa, gewinnt einen komplizierten Fall nach dem nächsten und macht immer mehr auf sich aufmerksam. Tessa ist genau dort, wo sie hingehört. Sie liebt das Gesetz, die Spielregeln vor Gericht, glaubt aus tiefstem Herzen an die Gerechtigkeit des Rechtssystems, hat ihm ihr Leben verschrieben. Bis Tessa eines furchtbaren Tages selbst zum Opfer wird, das Rechtssystem von der anderen Seite aus kennenlernt und nicht nur ihre Welt, sondern ihren Glauben an Gerechtigkeit ins Wanken bringt.
Dieser Vorfall teilt Tessas Leben in ein Davor und ein Danach. Im Davor erleben wir die starke Tessa. Die Anwältin Tessa, die daran glaubt, was sie tut. Die ohne innere Konflikte zahlreiche Mandanten in Sexualstrafsachen vertritt und freibekommt, denn wären sie schuldig, würde das Gericht sie schuldig sprechen, die Beweise wären eindeutig, die Zeuginnenaussagen schlüssig. Im Davor erleben wir eine selbstbewusste, zielstrebige Tessa, deren Leben genau nach Plan verläuft. Für jemanden wie mich, die Anwält*innen-Serien liebt waren Einblicke in die Arbeit der Strafverteidigung so faszinierend wie interessant und teilweise auch erschreckend, denn ich habe ihn nicht nachvollziehen können, diesen uneingeschränkten Glauben an die Gerechtigkeit des Gesetzes. Dann kam das Danach. Im Danach ist nichts mehr, wie es war. Eine strauchelnde Tessa, die Seiten gewechselt, voller Angst, Verzweiflung, Schmerz und der Erkenntnis, dass auch das Gesetz fehlbar ist. Die beschriebenen Szenen gingen mir teilweise sehr nah, machten mich brennend und eiskalt vor Wut, ließen mich weinen und an all die Frauen denken. Jede dritte Frau. Jede zehnte erstattet Anzeige. Die Verurteilungsrate geht quasi gegen null. Das ist keine Gerechtigkeit, das ist weit weg davon.
»[W]enn eine Frau ›Nein‹ sagt, wenn ihre Handlungen ›Nein‹ sagen, dann ist daran nichts subtil oder missverständlich.«
Ich weiß nicht, ob es Worte gibt, die »Prima Facie« gerecht werden können, aber ich versuche es. Denn dieser Roman ist so zeitlos wie zeitaktuell. Die Aufnahme eines Moments, der furchtbarerweise schon viel zu lange anhält. Ein Roman mit Schlagkraft, einer ihm innewohnenden Wucht, ein Versuch, patriarchale Mauern niederzubrennen, die so dringend benötigte auslösende Flamme zu sein, Anklageschrift und Plädoyer in einem. In einer kaum zu beschreibenden nüchternen Sachlichkeit, hinter der sich eine tiefsitzende, fühlbare, schmerzende Emotionalität verbirgt, zeichnet »Prima Facie« ein eindrucksvolles, starkes, mutiges und schonungsloses Bild der tief in unserer Gesellschaft verwurzelten Misogynie und deren fatale Auswirkungen auf viel zu viele Frauen. Täterschaft, Opferrolle, Retraumatisierung vor Gericht, die Unfähigkeit und der Unwille, Überlebenden von sexualisierter Gewalt Glauben zu schenken, ein Rechtssystem, gegründet, getragen und aufgebaut von weißen Männern, das Gerechtigkeit und Gleichheit verspricht und doch nicht liefert. Gar nicht liefern kann, solange ein White Male Gaze über allem liegt. »Prima Facie« zu lesen ist erschreckend, aufwühlend, bestätigend, beschämend und nichts beschönigend. Diesen Roman zu lesen ist keine Freude – wie könnte es auch? – aber so so wichtig. Ein Zeitzeugnis einer Zeit, das durch mutige Bücher wie dieses vielleicht und hoffentlich eines Tages endlich Vergangenheit sein darf.
»Könnten wir nicht anfangen, den Beschuldigten zu fragen, was er getan hat, um sicherzugehen, dass es wirklich ein Einvernehmen gab?«
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