Rezension zu »Windstärke 17« von Caroline Wahl

»Und ich weiß, dass es mir eigentlich gar nicht gut geht. Ich weiß, dass in mir alles kaputt ist und bald explodiert.«

Ein alter verschrammter Hartschalenkoffer, ein paar wenige Lieblingsklamotten, ihr MacBook, das all ihre Geschichten enthält, und jede Menge Wut, Verzweiflung und einem sie zerfressenden Gefühl von Schuld. Mehr hat Ida nicht im Gepäck als sie sich aufmacht und der Kleinstadt den Rücken kehrt. Es ist eine Flucht, vor sich selbst und der Welt. Denn Abschiede fallen Ida schwer. So schwer, dass sie es nicht über sich gebracht hat und vor zwei Monaten die Beerdigung ihrer Mutter verpasst hat. Eigentlich soll sie zu Tilda, das Zugticket reicht bis nach Hamburg. Doch der Wutklumpen in ihrem Bauch richtet sich vehement auch gegen ihre große, eigentlich geliebte Schwester; die Distanz zwischen den beiden seit einiger Zeit nicht mehr nur räumlichen Ursprungs. So wählt Ida den Zug, der am weitesten weg ist von allem, das sie kennt. Und landet auf Rügen, eine Insel, wortwörtlich abgetrennt vom Rest der Welt. Ohne Geld, ohne Plan, ohne Dach über dem Kopf. Ausweglos wie die Situation zu sein scheint, scheint plötzlich ein Lichtschimmer hindurch, meint das Leben es vielleicht zum ersten Mal gut mit Ida: Denn Ida trifft Knut, den örtlichen Kneipenbesitzer, und dessen Frau Marianne. Die beiden sehen etwas in der jungen verlorenen Frau und nehmen sie bei sich auf. Ihre Tage bestehen nun aus gemeinsamem Frühstücken, Strandspaziergängen, einfachen Gesprächen und der frischen Ostseeluft, und zunehmend auch Zeit mit Leif, einem international gefeierten DJ, in dem auch etwas zerbrochen ist. Im alten Kinderzimmer von Mariannes und Knuts Tochter findet Ida zum ersten Mal in langer Zeit das Gefühl von Sicherheit und Ankommen. Ida fängt wieder an, schwimmen zu gehen, und – noch viel wichtiger – wieder zu schreiben. Es mag nicht alles gut sein in Idas Leben und Herzen, weit weg davon, doch zum ersten Mal scheint das Leben ein wenig besser, existiert ein wenig Hoffnung. Bis Marianne ihr von ihrer schweren Erkrankung erzählt und Ida erneut Gefahr läuft, alles zu verlieren.

»Das Meer, das so krass wunderschön und gewaltig ist, zeigt mir, dass ich mit meinen Nichtigkeiten ganz klein und egal bin. Bedeutungslos.«

»Windstärke 17« hat ab dem ersten Satz mein Herz angesprochen und mich bis zum Ende nicht mehr losgelassen. Ich habe es in wenigen Stunden von vorne bis hinten durchgelesen, es war keine Zeit für Pausen, es existierte nichts anderes mehr für mich, nur noch Ida. Ihr Schmerz, ihre Wut, ihre Hoffnung. Ich habe beim Lesen alles gefühlt, Tränen verdrückt und laut aufgelacht. Ein Wechselbad der Gefühle, so stürmisch, aufbrausend und unvorhersehbar wie die Ostsee; so intensiv und echt und gleichzeitig beschützt und wohl portioniert, wie es vielleicht nur Caroline Wahl schreiben kann. Sie schreibt für mein Herz, für den Teil in mir, der fühlen, schreien, weinen, lachen, leben will. Der sich mitreißen lassen will von Geschichten, so traurig-schön, wie sie eigentlich nur das Leben selbst schreiben kann. Es ist eine junge ungezähmte Wut in Ida. Auf die Welt, auf diejenigen, die hätten da sein sollen, und abwesend waren, auf diejenigen, die hätten stark sein sollen, als sie es nicht konnte, und es doch nicht waren, eine Wut auf sich selbst. Es ist ein Schmerz, der dieser Wut zugrunde liegt, und der in der Wut ein Ventil findet, weil Wut manchmal leichter ist als Schmerz. Weil Wut offener, brutaler und ungerichteter nach außen getragen werden kann, während Schmerz ein leises Loch ins Herz frisst, sich dort festsetzt, ausbreitet und auflodert. Doch genau dort, wo Schmerz sitzt, kann auch Hoffnung entstehen und sich entfalten. Kann Schuld einen Namen finden und verarbeitet werden. Können Kindheitstraumata heilen und alte Wunden von Neuem aufreißen. Liegen Liebe und Hass, Anfang und Ende, Trauer und Freude, Leben und Tod so nah beieinander.

Ich bin noch nicht bereit für einen Abschied von Ida und Tilda, Marianne und Knut, Viktor und Leif. Aber ich weiß, dass es ihnen gut gehen wird, in den unvorhersehbaren Aufs und Abs des Lebens. Selbst dann, wenn es ihnen mal nicht gut geht. Diese Rezension ist anders als die meisten, die ich schreibe. Sie war so nicht geplant, ich habe mich treiben lassen mit der Sonne auf meiner Haut und meinen Gedanken an einem Sandstrand an der Ostsee. Vielleicht bewundere ich Caroline Wahl genau dafür am meisten: Dass sie mich mit ihrem Worten träumen und stürzen lassen kann, mir Zugang gewährt zu tiefen Gefühlen und mich mit diesem leisen, feinen Jucken in den Fingern zurücklässt, eigene Worte zu finden. Wie diese hier. Eine Rezension anders als die meisten und doch gut. Denn warum sollte ich euch auch alles verraten? Lest es selbst, liebt es selbst, fühlt es selbst. Für mich ist »Windstärke 17« ein traurig-schöner, melancholischer, tiefschürfender Roman über Familie, die angeborene und die gefundene, über Liebe, das Leben und den Tod. Über Festhalten und Loslassen. Ein Herzensbuch vom ersten bis zum letzten Wort.

»Schreiben und Geschichten waren irgendwie meine Sprache, mein Ding. Und flüchten funktionierte mit Geschichtenerzählern fast noch besser als mit Lesen.«

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