Rezension zu »Zwei Leben« von Ewald Arenz
»In das Land waren Familiengeschichten eingeschrieben, und es konnte sie nur lesen, wer hier aufgewachsen war.«
1971 kehrt Roberta nach ihrer Lehre zur Schneiderin zurück in ihr kleines Heimatdorf Salach im Süden Deutschlands. Als einziges Kind einer Bauernfamilie weiß sie, was die Zukunft für sie bereithalten wird, welche Verpflichtungen und welches Erbe auf sie warten. Die Lehre, nicht mehr als ein »Für alle Fälle, denn man weiß ja nie« des Vaters. Doch in Robertas Brust schlagen zwei Herzen: Einerseits liebt sie ihr Dorf, ist froh, nach den eher durchwachsenen Lehrjahren endlich zurück zu sein, atmet den Geruch nach frischem Heu voller Genuss ein, freut sich darauf, ihre Tage nicht länger sitzend in der dunklen Fabrik, sondern stehend und arbeitend an der frischen Luft zu verbringen. Ja, Roberta liebt das Landleben, liebt den Hof und die Beschaulichkeit der Dinge. Aber, andererseits träumt Roberta von so viel mehr. Von einem Leben in der Ferne, von Paris und New York, davon, mit Mode und eigenen Designs für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Doch manchmal sind Träume eben nur das, Träume, das Dorf ist ihre Realität. Schon am ersten Tag, auf dem Weg zum elterlichen Hof, trifft sie ihren Freund aus Kindertagen wieder. Wilhelm, der Sohn es Pfarrers, gehört auf andere Weise und doch ebenso wie Roberta nur zu einem Teil ins Dorf: Zwar hat er sein ganzes Leben in Salach verbracht, doch als Pfarrerssohn steht fest, dass er nach dem Zivildienst das Dorf verlassen und in einer großen Stadt ein Studium beginnen wird – auf Wilhelm wartet ein Leben, das mehr bereithält als der kleine Ort. Dennoch oder vielleicht genau wegen ihrer Unterschiede und dem leisen Verständnis für die Widersprüchlichkeiten des Lebens, kommen sich Roberta und Wilhelm in diesem Sommer näher, verlieben sich ineinander. Eine unschuldige, leidenschaftliche, echte und vor den Augen aller anderen verborgene Liebe. Auch Gertrud, Wilhelms Mutter, bekommt nichts mit von der ersten Liebe ihres Sohnes. Im Gegensatz zu Roberta hat Gertrud es nie geschafft, in Salach anzukommen. Gertrud ist eine Außenseiterin, für alle nur Frau Pfarrer, selten überhaupt in ein Gespräch verwickelt. Für Gertrud, die sich nach Städten wie Hamburg und München und der Welt sehnt, ist Salach ein Gefängnis, das ihre Träume und ihr Selbst in Ketten legt. Lang hat sie es versucht, ihrem Mann und ihrem Sohn zuliebe, lang hat sie sich eingesperrt gefühlt. Zu lang. Inzwischen weiß Gertrud, dass sie gehen muss, für die Freiheit und das Leben. Gertrud und Roberta, zwei ganz unterschiedliche Frauen, die sich beide nach mehr sehnen im Leben. Und denen innerhalb eines Jahres ein Schicksal widerfährt, das alles ändern wird.
»Wir sind schwer von all den Geschichten, von all dem, was vor uns gekommen ist. Manchmal denke ich, wir schleppen das ganze Land mit und mit jeder Generation werden wir noch schwerer und langsamer.«
Ewald Arenz schreibt fürs Herz. Und wie gut er darin ist, hat er mit »Zwei Leben« erneut und vielleicht eindrücklicher bewiesen als je zuvor. Ich weiß nicht, was es ist, aber Arenz‘ Bücher empfangen mich auf der ersten Seite wie alte Freund*innen mit einem leisen Versprechen von Wärme und Wohligkeit und lassen mich am Ende um ein Leseerlebnis, ein paar verdrückte Tränen und jede Menge mitgefühlter Emotionen reicher wieder los in die Kälte der Welt. Ihr glaubt, ich übertreibe? Dann los, schnappt euch »Zwei Leben« (oder »Alte Sorten«, »Der große Sommer« oder »Die Liebe an miesen Tagen«, wenn wir schon dabei sind) und findet es raus. Es lohnt sich so sehr.
»Das konnten sie nur in Büchern und im Film, dachte sie. Die Geschichten so erzählen, als könnten sie doch geschehen.«
Aber zurück zu »Zwei Leben«: Wenn Ewald Arenz eins kann, dann eine Atmosphäre erschaffen. Dieses kleine bayerische Dorf, das nirgends und gleichzeitig doch überall in Südbayern ist, fühlte sich lebendig an und echt. Die Figuren fühlten sich lebendig an und echt. Sie alle sind mir ans Herz gewachsen, sie alle wollte ich das Leben leben sehen, das sie verdient haben. Doch man bekommt nicht immer das, was man verdient hat, nicht mal in einem Roman. Besonders nicht in einem Roman, der so nah dran ist an etwas Echtem; der eine Geschichte erzählt und dabei eine Leinwand schafft für das eigene Erleben. »Zwei Leben« erzählt eine Geschichte, ja, und noch dazu eine ganz herzerwärmend wunderbare, aber in Wahrheit geht es ums Gefühl. Ums Heimkommen und Fortgehen, um Liebe und Schmerz, um Selbstverwirklichung und Verantwortung, um Realität und Träume. Zwei Versionen eines Lebens: das, das wir führen, und das, das wir leben könnten, würden wir uns erlauben, an unsere Träume zu glauben, für sie zu kämpfen, in ihnen mehr zu sehen als ein Vielleicht. Und, natürlich, geht es auch um die Menschen, die uns auf diesem Weg begleiten. Manche halten uns auf, verstehen uns nicht, stutzen uns die Flügel, noch nicht mal böse gemeint, sondern dem eigenen kleinen Blick auf die Welt geschuldet. Andere begleiten uns ein Stück des Weges, hinterlassen Spuren und einen Blick auf ein »was wäre wenn«. Und dann gibt es solche, die in unser Leben kommen, um zu bleiben. Treue Gefährt*innen wie Robertas Opa, die an uns glauben, wenn wir selbst es nicht können, die der Wind unter unseren Flügeln sind, die mit uns träumen und den Menschen sehen, der man wirklich ist.
»Vielleicht waren es zwei Dinge; vielleicht gehörte man irgendwohin und musste trotzdem fortgehen.«
Es ist diese Alltäglichkeit der Dinge, diese Menschlichkeit, dieses Gespür für Lebenslinien, die »Zwei Leben« tief durchdringen. Melancholisch, idyllisch, widersprüchlich, lebensfroh, wunderschön und stellenweise tieftraurig zeichnet Ewald Arenz die Porträts zweier Frauen, erzählt deren Lebenswege und von den Menschen, die ihre Leben prägen, und erschafft dabei ein leises, aber gefühlvolles und absolutes Herzensbuch.
»Solange du lebst, ist immer noch irgendwo Luft zum Atmen.«
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