Rezension zu »Auf allen vieren« von Miranda July
»So vieles von dem, was sie für Weiblichkeit gehalten hatte, war im Grunde genommen nur Jugend.«
Eine Künstlerin mit mittelmäßiger Berühmtheit steckt schon länger in einer Art Schaffens- und Existenzkrise. Der große Durchbruch kam nie, dafür eine Schwangerschaft, die alles andere als normal verlief. Aus einer freimütigen, losgelösten Künstlerin ist schnell eine Mutter und Hausfrau geworden, denn Ehemann Harris – ebenfalls in der Kunstwelt zuhause – liebt es zwar, Vater zu sein, aber für all das Drumherum hatte er nie Augen. Und sie hat ihn nicht darauf hingewiesen, sondern sich ihrem Schicksal gefügt, schließlich muss sich ja jemand kümmern. Einmal die Woche haben sie Sex, initiiert von ihr, kein großes Ding, ein Punkt auf der To-Do-Liste. Solange es so bleibt, ist alles gut in der Ehe. Zu ihrem 45. Geburtstag und mit einem Tantiemen-Check über 20.000 Dollar in der Tasche beschließt sie, sich nicht nur eine Reise nach New York zu gönnen, sondern ihre Komfortzone und die gewohnten Bahnen zu verlassen, indem sie nicht wie geplant fliegt, sondern mit dem Auto einmal quer durch die USA von Los Angeles nach New York und zurückfährt. Zwei Wochen, durchgeplant und verheißungsvoll, bis sie zu Mann, Kind und einem wichtigen Meeting mit einer weltberühmten Künstlerin zurück sein muss. Doch sie kommt nicht weit. Nur eine knappe halbe Stunde weg von ihrem Zuhause hält sie an, um zu tanken – und bleibt. Aus einem Impuls heraus mietet sie sich in einem billigen Motel ein, gibt der Frau des Mannes, der ihr an der Tankstelle die Scheibe geputzt hat, den Check, um das Zimmer nach ihren Vorgaben neu einzurichten, verbringt ihre Tage mit Schlafen, Essen, Masturbation, Sinnlosigkeit und Davey, eben jenem Mann von der Tankstelle. Er ist jünger als sie, viel jünger, zu jung. Doch dieser Ende-20-Jährige lässt sie nicht mehr los. Nachmittags gehen sie miteinander spazieren und sie stellt sich vor, was wäre, wenn. Wenn er sie nehmen würde, jetzt sofort. Was für ein Körper sich unter all der Kleidung verbirgt. Wie er sich anfühlen, wie er schmecken, wie er kommen würde. Tagträume, Wichsvorlagen, Fantasien. Doch auch Davey fühlt sich zu ihr hingezogen. Er will seiner Frau treu bleiben, verbietet sich selbst den Sex und gibt auf seine Art und Weise nach. Sie sehen sich, in dieser Woche immer wieder. Oft. Tagsüber, nachts. Sie kommen sich näher, ohne sich zu nahe zu kommen. Eine Intimität entsteht, die ganz eigenen Regeln folgt. Doch ihr Roadtrip geht zu Ende und damit auch die Zeit mit Davey. Wieder zuhause, überfordert von einem lange verborgenen Verlangen und einer Niedergeschlagenheit ob des Alltags, erfährt sie, dass sie in der Perimenopause steckt. Ihre Tage der Lust laufen laut der Biologie auf ein Ende zu. Doch wie kann das sein, wo ihr Begehren gerade erst erwacht ist und sie es noch nicht mal ausleben konnte? Eine Phase des Umbruchs beginnt, in der sie alles in Frage stellt, jeden noch so kleinen Stein in ihrem bisherigen Leben umdreht und sich Raum bricht, für ein anderes, neues, aufregendes, verlangendes, wildes Leben.
»Niemand weiß, was vor sich geht. Wir werden von Winden durchs Leben gewirbelt, die vor Millionen von Jahren zu wehen begonnen haben.«
Anders, aufregend, verlangend, wild. Vielleicht würde diese vier Worte schon reichen, um »Auf allen vieren« zu beschreiben oder euch zumindest einen Eindruck davon zu verschaffen, was dieser Roman an Erlebnissen bereithält, aber ich möchte so viel mehr sagen. Dieser Roman folgt keiner Norm, keiner Konvention, keinem gesellschaftlich akzeptierten und auferlegten Blick. Dieser Roman folgt sich selbst, bleibt sich selbst treu, zweifelt an sich, verwirft sich selbst und erfindet sich immer wieder neu – genau so, wie seine Protagonistin es tut. Was zwischen ihr und Davey passiert, ist besonders und doch alltäglich, austauschbar beinahe. Anziehung, Verlangen, ein Blick in ein anderes Leben, Leichtigkeit und Nähe. Am Ende ist es vernachlässigbar, ein Symptom eines überlebensgroßen inneren Drangs nach Freiheit, Selbstverständnis und Lebenslust. Neben den vielfältigen Veränderungen, die die (Peri)Menopause für Frauen mit sich bringt, neben der Beziehung zu Harris und ihrem Kind, neben ihrer Suche nach Antworten auf noch ungestellte Fragen, dreht sich dieser Roman in erster Linie um Sexualität und Begehren. Um Intimität. So viel Intimität in so vielen Formen. Schmerz. Sehnsucht. Verweigern. Veränderung. Der Sex, die sexuellen Fantasien, die Beinahe-Momente sind grafisch, explizit, auf eine Art und Weise derb und roh, wie ich sie noch nie gelesen habe. Seltsam zuweilen, als würde man dieses eine Quäntchen zu viel erfahren aus dem sexuellen Innenleben der Protagonistin, aber so für sich alleinstehend und ehrlich und fordernd, dass sie etwas mit einem machen beim Lesen. Weil dieser Roman dadurch eine Intimität mit seinen Leser*innen aufbaut und darin eine Verletzlichkeit schafft, die mich kaum mehr losgelassen hat. Ich war mit ihr in diesem Raum, während sie sich hässlich, begierig berührte, stundenlang, immer wieder, wimmernd vor Lust und Schmerz und unerfülltem Wollen, eine nicht anwesende Person anflehend, sie zu ficken und – bitte, jetzt, nur für diesen Moment – zu erlösen, dass ich zeitweise beim Lesen aufgehört habe, zu denken, einfach nur da war mit ihr und gefühlt habe, was auch immer das war. Wir beobachten und erleben hier eine Frau in der Mitte ihres Lebens, zwischen den Resten jugendlicher Erotik und beginnender Unsichtbarkeit. Eine Frau, die aufhört, zu sein wie andere es erwarten. Eine Frau, die beginnt, zu leben, zu fühlen, zu lieben, zu begehren – wann und wen sie will.
»Eine solche Art von Verlangen riss eine Wunde, mit der man bis zu seinem Tod leben musste. Aber das war immer noch besser, als es nie erlebt zu haben.«
»Auf allen vieren« ist ganz große Schreib- und Erzählkunst. Eine Reise der anderen Art, ein direktes Erlebenlassen, ein Einblick in die körperlichen und psychischen Veränderungen einer Frau vor bzw. während der Wechseljahre, ein Abbild verschiedener Beziehungsmodelle, ein Blick hinter Sexualität, Intimität und Fantasien, ein Selbstverständnis von Diversität, eine eigenwillige, raue Lobeshymne an weibliche Sexualität und Lust. Dieser Roman hat etwas mit mir gemacht. Ich weiß nicht genau, was, aber er hinterlässt seine Spuren. In den Textstellen, die ich markiert habe, in den Tränen, die er mich hat weinen lassen, in den Momenten, in denen er mich zum Lachen gebracht hat, in seiner Intensität und Ehrlichkeit. »Auf allen vieren« ist ein zutiefst weiblicher Text, ein Auflehnen gegen die eigene Sterblichkeit, eine Akzeptanz der Vergänglichkeit, das Umarmen von Möglichkeit, eine Erfüllung von Lust und kompromisslose Lebendigkeit. Eines der beeindruckendsten und einzigartigsten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe.
»Aber vielleicht gabelte sich der Weg auch eher in: ein Leben voller Sehnsucht vs. ein Leben, das voller Überraschungen steckte.«
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