Rezension zu »Gute Gründe« von Nadine J. Cohen
»Der Angst ist es scheißegal, wann und wo sie zum Vorschein kommt.«
Yael hat Nein gesagt. Zu sich, zum Leben, zu allem. Hat Ja gesagt zur Ruhe und zum Nichts. Denn in Ruhe gelassen werden ist alles, was sie will. Doch ihr Vorhaben ist nicht aufgegangen und so findet sie sich im Januar gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Liora bei ihrer Therapeutin Priya wieder. Die beiden reden über sie und ihre Zukunft, als wäre sie gar nicht da. Und eigentlich ist das ja auch genau das, was Yael will: nicht da sein, keine Zukunft haben. Doch Liora und Priya haben andere Pläne. Probehalber darf Yael in ihre eigene Wohnung zurück, vorausgesetzt, sie nimmt die Therapie ernst, nimmt ihre Medikamente und verbringt so wenig Zeit wie möglich alleine zuhause. So kann sie auch nicht Nein sagen – obwohl sie nichts mehr will als das – als ihre Freundin Romy sie in ein Frauenschwimmbad mitnimmt. Unerwartet findet Yael Gefallen an diesem Ort, der ein wenig ist wie aus einer anderen Welt. Der nichts von ihr verlangt, an dem sie nichts sein muss, was sie nicht ist, ein Safe Space für Frauen*. Also kommt sie wieder und lernt Shirley kennen, eine einnehmende Rentnerin, die Yael zum Reden auffordert, sie aber auch Schweigen lässt. Auch Liora lässt nicht locker und versucht, Yael zum Leben zu motivieren. Also versucht Yael es, sucht nach guten Gründen, wegen denen es sich lohnt, am Leben zu sein. Und sie findet sie, ganz unauffällig, in den großen und kleinen Dingen und an Orten, an denen sie sie nicht vermutet hätte: im Frauenschwimmbad, in Shirley, in Liora, in Smoothies und Schokolade, in ihren Nichten und Neffen und »Fifty Shades of Grey«. Der Weg zurück ins Leben findet langsam statt, Schritt für Schritt, mit Rückschritten und Hoffnungsschimmern, erstreckt er sich bis in den Dezember des Jahres.
»Aber es waren Vincent von Goghs letzte Worte, die mich am meisten berührten: ›La tristesse durera toujours.‹ «
Trotz der Ernsthaftigkeit und der Schwere des Themas des Buches, hat sich »Gute Gründe« unerwartet leicht und wundervoll lesen lassen. Die Geschichte aus Yaels Perspektive eröffnet eine Tiefe und einen direkten Zugang zu ihrem emotional aufgewühlten Innenleben, die nahe gehen und mitfühlen lassen. Ihre Lebensmüdigkeit wird genauso spürbar erzählt wie ihre Suche und das Finden von Gründen, die das Leben doch lebenswert und schön machen. In Rückblicken erhalten wir zudem Einblicke in Yaels Vergangenheit und erfahren so die Hintergründe, die in Summe zu ihrer Entscheidung am Anfang des Buchs geführt haben: ihre bis in die Kindheit zurückreichenden depressiven Episoden, das nicht im Ansatz verarbeitete Trauma des Krebstodes ihrer Mutter, das generationsübergreifende Trauma des Holocausts ihrer Großeltern, eine toxische Beziehung, die viel von ihr gefordert hat, der Verlust einer Freundin, die ihr viel bedeutet hat, und eine komplizierte Beziehung zu ihrer Schwester, der sie nicht zur Last fallen will und gleichzeitig das Gefühl hat, ihr Leben lang nichts anderes getan zu haben. Es ist viel, das Yael zu verarbeiten hat, genug für mehr als ein Leben. Aber sie versucht es, samt nicht zu umgehender Rückschritte und Rückfälle, für ihre Schwester, ihre Nichten und Neffen und irgendwann auch für sich. Das als Leserin mitzuerleben war sehr bewegend, rührend und Mut machend. Gleichzeitig – und das macht dieses Buch noch ein wenig schöner für mich – lassen eine Yael und ihre Geschichte auch schmunzeln und lachen. Es gibt helle Momente, es gibt Freude, Humor und Witz. Und diese Momente nehmen zu, je länger man Yael auf ihrem Weg begleitet. Für die Auseinandersetzung mit psychischer Gesundheit und dem, was nach einem missglückten Selbstmordversuch passieren kann ich dieses Buch wirklich wärmstens empfehlen. Weil es eine persönliche Geschichte erzählt und doch stellvertretend für viele Menschen steht. Weil es ernst ist und mitreißend, aber auch komisch und warm. Passt beim Lesen und im Leben auf euch auf und greift nur zu dem Buch, wenn ihr euch das zutraut. Wenn ja, erwartet euch eine tolle Geschichte.
»Wie sich zeigt, ist der Weg zur Heilung mit genervten Geschwistern gepflastert.«
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