Rezension zu »Leute von früher« von Kristin Höller

Frisch aus dem Studium weiß Marlene nicht, wohin mit sich und ihrem Leben. Während ihre Freund*innen zunehmend ans Heiraten und Kinderkriegen, zumindest aber doch ans Zusammenziehen denken, ist Marlene mit Ende 20 in ihrer Situationship so planlos wie im Rest ihres Lebens. Um weitreichende Lebensentscheidungen aufzuschieben, fängt sie kurzerhand als Verkäuferin in einem Erlebnisdorf auf der nordfriesischen Insel Strand an. Von zahlreichen Saisonkräften wird auf Strand von Frühling bis Herbst eine aufwändige Illusion aufrechterhalten – für Tourist*innen, die diese Insel mit ihrem Geld am Laufen halten, wird ein Leben wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts inszeniert, mit Brauchtum, Handwerk und Kleidung. Ein nostalgisches »back to the good old days« für die Gäste auf der einen Seite »Kostümgrenze«, ein einfaches, entbehrungsreiches Leben in Baracken für die Saisonkräfte auf der anderen Seite. Marlene fühlt sich zuerst angezogen von diesem ursprünglicheren Leben fernab von Festland und Realität, das ihr eine Einfachheit und Zeitlosigkeit vorgaukelt und mit ihrer orientierungslosen Seele harmoniert, und entdeckt mit der Zeit durch Risse in der Fassade. Zu einigen der Saisonkräfte baut Marlene langsam eine Beziehung auf, die durch vorsichtiges Herantasten und Schweigen bestehen kann. Dann wäre da noch Janne, eine Einheimische und damit eine Seltenheit auf Strand, zu der sich Marlene unerwartet stark hingezogen fühlt. Je näher sie Janne kommt, desto spürbarer wird das Geheimnis, das Janne zu verbergen scheint. Ein Geheimnis, tief verwurzelt mit der Geschichte und der Vergangenheit der Insel. Und mit der Zeit, im Bann der Insel, bemerkt Marlene kleine Merkwürdigkeiten. Wasserlachen, wo keine sein sollten, Gegenstände, die gestern woanders waren und zunehmendes Getuschel über die versunkene Stadt Rungholt.

»Leute von früher« – selten war ein Buchtitel so allumfassend treffend gewählt – ist ein Roman, der mich ganz heimlich, still und leise in eine andere Welt entführt hat. Ein Roman, der nicht durch Handlung wirkt, sondern durch Stimmung. Der eine Atmosphäre schafft, derer man sich kaum entziehen kann, hat man erst Zugang gefunden. Nostalgie, Vergänglichkeit und Melancholie schaffen eine Atmosphäre, die mystisch wird. Wir sind woanders, wir sind sie, diese Leute von früher. Fühlen sie, um uns herum; werden ein Teil von etwas, nicht greifbar, aber so sehr da. Zugleich: eine schrittweise und kritische Demaskierung einer getriebenen Konsumgesellschaft, die Auswirkungen der Klimakrise, Ausbeutung und moderner Lohnarbeit. Aber auch: die zarteste Annäherung einer aufblühenden Liebe zwischen zwei jungen Frauen, die mein Herz sich zusammenziehen und höherschlagen lassen hat. Welten, die aufeinandertreffen, miteinander verschwimmen und nebeneinander bestehen. Legenden, die die Wirklichkeit nach eigenen Regeln lenken. Auch im Früher bleibt das Jetzt und hinterlässt Spuren. Auch im Jetzt atmet das Früher und lässt nie ganz los. So strahlt »Leute von früher« eine Ruhe aus, die sich überträgt. Eine Ruhe, die im Laufe des Buchs für meinen Geschmack gerne durch ein klein wenig mehr Handlung oder doch Einblicke hätte wirken können, aber dann wiederum: Wochen nach dem Lesen ist es noch immer da, dieses wohlige Gefühl beim Blick auf das Buch, das beim Lesen entstanden ist. In diesem Buch steckt viel Wärme, steckt viel Nostalgie, steckt genau so viel Magie, dass sich beim Lesen ein Zauber entfaltet.




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Daten zum Buch
Titel: Leute von früher
Autor*in: Kristin Höller
Sprache: Deutsch
Verlag: Suhrkamp Nova
Hardcover | 316 Seiten | ISBN: 978-3-518-47400-6

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