Rezension zu »WANT – Sexuelle Fantasien der Frauen im 21. Jahrhundert« Anonyme Stimmen gesammelt von Gillian Anderson

»In unserer Gesellschaft werden Frauen oft in Schubladen gesteckt und auf bestimmte Identitäten und Rollen reduziert – die verführerische Sexpartnerin, die liebevolle Mutter, die smarte Karrierefrau –, aber die hier versammelten Fantasien belegen, dass keine Frau nur eine einzige Identität besitzt.«

»Was wollen Sie, wenn niemand zuschaut? Was wollen Sie, wenn die Lichter aus sind? Was wollen Sie, wenn Sie niemand verurteilt für das, was Sie sich wünschen?« Diese Fragen hat die Aktivistin und Schauspielerin Gillian Anderson gemeinsam mit ihrem Verlag Frauen* auf der ganzen Welt gestellt, nicht ahnend, dass sich daraus tausende Zuschriften ergeben werden. Thematisch sortiert und jeweils mit einem persönlichen Vorwort von Gillian Anderson kommen auf fast 400 Seiten hunderte von Frauen* zu Wort, die anonym über ihre persönlichsten, intimsten Begehren, Sehnsüchte, Gedanken und Gefühle schreiben. So schreibt eine Frau darüber, dass sie bereut, ihren Mann so jung geheiratet zu haben, weil sie aufgrund ihrer Religion und ihrer Zuneigung zu ihm, ihr Leben mit ihm verbringen wird, aber insgeheim davon träumt und sich ausmalt, wie es wäre, mit einer Frau zusammen zu sein. Erfolgreiche und starke Frauen und Mütter, die davon fantasieren, dominiert zu werden, um einmal keine Verantwortung haben zu müssen, sich einfach fallen lassen zu können. Lesbische Frauen, die vom Sex mit Männern fantasieren, cis-Frauen, die vom Sex mit Frauen fantasieren. Fantasien mit Fremden, Fantasien mit dem Bruder des Mannes. Eine junge Frau, die noch immer auf ihre erste intime Begegnung mit einem Menschen wartet. Eine Witwe, die sich nicht vorstellen kann, im echten Leben einen anderen als ihren verstorbenen Mann zu berühren, sich aber dennoch nach körperlicher Nähe sehnt. Fantasien mit einer anderen Person, mit mehreren Personen, mit Objekten. Fantasien eines letzten oder ersten richtig guten Kusses. Fantasien, um die sexuelle Erfüllung zu erfahren, die sie von ihren Partner*innen nicht bekommen. Fantasien von Momenten, die sie im realen Leben nie wollen würden, und von Fantasien, nach deren Erfüllung in der Realität sie sich verzehren. Darum geht es oft: Um Wünsche, die aus welchen Gründen auch immer im echten Leben verwehrt bleiben (müssen), und in der Fantasie Erfüllung finden.

»Guter Sex beginnt, lange bevor das erste Kleidungsstück auf den Boden fällt. Sex ist Erwartung, Sex ist Sehnsucht, Sex ist Schmerz und ein Akt aus Leidenschaft und Schweiß, in dem sich die über Jahre angesammelten Unsicherheiten und Wünsche bündeln.«

»WANT« ist ein Buch voller Sehnsüchte, tief aus dem Innersten, die die Frauen* vor der Welt, ihren Partner*innen und teilweise auch sich selbst verbergen – weil sie mit Scham behaftet sind, weil ihre Partner*innen sie nicht verstehen würden, weil sie in dem Teil der Welt, in dem sie leben, als Sünde und/oder Straftat gelten. Manche nur wenige Sätze lang, manche füllen Seiten. Manche voller Ästhetik, manche direkt. Alle persönlich, echt, verletzlich. Nicht alle drehen sich um Sex, in manchen geht es nur um Berührungen, kleine Momente, Gedanken, Empfindungen. In allen geht es um mehr als die Sache selbst. Die gesammelten Stimmen erzählen von tiefergehenden Wünschen und Bedürfnissen – gesehen zu werden, berührt zu werden, los lassen zu können, geliebt zu werden, genommen zu werden, wie man ist. Stimmen, die von sexuellem Verlangen sprechen, von Beziehungen und Machtverhältnissen, vom Frau- und Muttersein, von Respekt, Lust und Schmerz, Ausbeutung, Untreue, Liebe, Angst, der Beziehung zum eigenen Körper, der (Nicht-)Akzeptanz der eigenen Sexualität, von Verletzlichkeit. So vielfältig und komplex wie Menschen sind, so vielfältig und komplex sind die Fantasien und Gedanken, die in »WANT« versammelt sind. Manche der Fantasien haben etwas in mir ausgelöst, hatten eine innere Schönheit und Unendlichkeit. In anderen habe ich mich (teilweise) wiedererkannt, andere haben mich neugierig gemacht und manche waren so speziell und nischig, dass ich stutzen musste. Manche habe ich markiert, weil sie mich so berührt oder fasziniert haben. Bei manchen musste ich schmunzeln, bei anderen schlucken, einige gingen mir sehr nahe. Freude, Sorge, Scham, Selbstermächtigung, Liebe und Hass liegen hier so nah beieinander und erschaffen ein einzigartiges Abbild weiblicher* Sexualität im 21. Jahrhundert. Es ist intim und es ist unendlich politisch in einer Welt, die über die Körper von Frauen bestimmen will, denn ihre Fantasien gehören ihnen alleine. Indem diese Frauen* ihre Fantasien mit der Welt teilen – auch und gerade in ihrer Anonymität – erschaffen sie Projektionsflächen, erschaffen sie einen Safe Space, erschaffen sie ein Identifikationsangebot und das Gefühl, nicht allein zu sein; gesehen zu werden, gehört zu werden, okay zu sein.

»Ganz gleich, welche Beweggründe wir auch haben, unsere Fantasie bietet uns jedenfalls einen Raum, in dem das Gerangel um Macht und Kontrolle Lust statt Schmerz bereitet und wir weibliche Kraft bündeln und auf die Welt loslassen können.«

»WANT« entzieht sich eines Vergleichs und einer Bewertung, die Standards, die ich sonst an Bücher herantrage, sind hier außer Kraft gesetzt. Dies ist kein Buch, das Regeln folgt. Es ist kein Buch, das unterhalten oder lehren möchte. Es ist ein Buch, das so echt und persönlich und individuell ist, dass es zu etwas viel Größerem, Mächtigerem wird. Ja, dieses Buch hat Macht. Es steckt eine enorme Kraft darin, wenn Frauen von allen Kontinenten dieser Welt den Mut besitzen, ehrlich auszusprechen, was sie wollen, was sie brauchen, wonach sie sich sehnen – und wonach nicht. Dieses Buch ist larger than life.

»Wenn Sex eine Art Zuhause wäre, das uns immer wieder freundlich und doch jedes Mal anders willkommen heißt?«




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Daten zum Buch
Titel: WANT – Sexuelle Fantasien der Frauen im 21. Jahrhundert
Herausgeber*in: Gillian Anderson
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Kim Köstlin
Verlag: dtv
Hardcover | 384 Seiten | ISBN: 978-3-423-28444-8

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