Rezension zu »Was uns zusammenhält« von Carola Lovering
Aus der Musik in der Wohnung über Billie sind panische Schreie geworden. Eben tobte noch die ausgelassene Stimmung zur Feier von Cassies 35. Geburtstag, doch gerade hat Cassie entdeckt, dass ihre kleine Tochter spurlos verschwunden ist. Billie lauscht diesen Schreien, hört gebannt, wie Cassie verzweifelt schreit, man solle Billie anrufen, sie brauche Billie. Billie schaut hinab auf das Baby in ihren Armen und fragt sich, wie sie in diese Situation gekommen ist. Billie und Cassie, einst beste und unzertrennliche Jugendfreundinnen, haben sich über die Jahre auseinandergelebt. So sehr, dass Cassie Billie nicht zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen hat. Während Billie ein einfaches, aber sehr zufriedenes Leben führt – abgesehen von ihrer Fixierung auf Cassie und der immerwährende Herzschmerz über deren zunehmend abweisendes Verhalten –, bewegt sich Cassie inzwischen in besseren Kreisen: sie hat einen reichen Mann geheiratet, mit seinem Geld einen Laden mit überteuerter Kleidung aufgemacht und ist auf dem Weg, sich als Influencerin einen Namen zu machen – und schreckt auch nicht davor zurück, ihre kleine Tochter für ihre Reichweite zu instrumentalisieren. Die anhängliche, einfacher gestrickte Billie passt nicht mehr in Cassies Leben, sie verbringt ihre Zeit inzwischen lieber mit angesagteren Menschen. Über Monate hinweg erleben wir den Alltag von Billie und Cassie aus ihren jeweiligen Perspektiven. Cassie, die jeden Moment für die Sozialen Medien festhält und ein Leben inszeniert, das oft abweicht von der Realität, und versucht, Billies wiederholten Annährungsversuchen aus dem Weg zu gehen. Billie wiederum geht in ihrer Arbeit aus, fängt an, Alex zu daten, einen liebenswerten Polizisten und verfolgt nahezu manisch jede Sekunde von Cassies Content, ist er doch alles, was ihr noch von ihrer besten Freundin geblieben ist. Und so steuern beide unausweichlich auf diesen Moment zu, in dem Billie Cassies Kind entführt in den Armen hält. Wer von beiden ist in dieser Geschichte die Böse? Wer trägt wofür die Verantwortung? Was schulden wir Menschen aus unserer Vergangenheit? Und wie geht es für die beiden und ihre Freundinnenschaft weiter nach diesem entscheidenden Moment?
Dank des Prologs werden wir mitten hinein katapultiert in »Was uns zusammenhält«. Es ist eben jener Punkt, auf den alles zusteuert. Jener Punkt, der alles in ein Davor und ein Danach teilt. In Bezug auf die Beziehung zwischen Cassie und Billie, in Bezug auf die Geschichte, die wir erzählt bekommen. Wir bekommen hier einen Roman, der viel zu bieten hat. Spannung, die ganze Bandbreite an Emotionen und einen empathischen, psychologisch raffiniert konstruierten Einblick in die Komplexität von Beziehungen. Geschickt spielt die Autorin mit Sympathie und Antipathie, Billie war mir im gesamten Verlauf des Romans emotional nahe. Ich hatte Mitleid und Mitgefühl, wollte ihr Bestes und habe trotzdem diese wirklich ungesunde Fixierung auf Cassie nicht ausblenden können. Cassie wiederum macht von Anfang an einen oberflächlichen, materialistischen Eindruck. Nur ist das nichts, dass Cassie jemals aktiv verschleiert hat, sondern schon immer Teil ihrer Persönlichkeit war – schon in den Anfängen der Freundinnenschaft, die wir durch Rückblicke von ihrer ersten Begegnung bis hin zu dem Moment erleben, an dem ihre Wege auseinandergingen, ist Cassie Cassie und Billie Billie. Zwei grundverschiedene junge Frauen, die durch äußere Umstände eine Einheit wurden. Dass sich die Beziehung ändert, wenn sich die Umstände ändern, liegt auf der Hand und ist als Betroffene doch auch schwer zu akzeptieren. Es sind tief verwurzelte, komplizierte Fragen von Schuld, Dankbarkeit und Abhängigkeit, die sich durch ihre Beziehung schlängeln. Und doch eröffnet sich in den Nachwehen der Kindesentführung ein anderer Blick auf Cassie. Ein Blick, der die tiefe Mutterliebe zeigt, die seit der Geburt ihrer Tochter Herz und Gedanken einnimmt. »Was uns zusammenhält« zeigt Grautöne, hier ist niemand nur Schwarz und Weiß, niemand nur die Böse oder nur die Gute. Nein, das Leben und Beziehungen sind komplizierter und das weiß dieser Roman mit einer faszinierenden Erzählkunst näherzubringen. So hat mich dieser Roman nicht nur hervorragend unterhalten und in seinen Bann gezogen, sondern auch mit viel Feingefühl und Verständnis ein differenziertes Bild einer jahrzehntelangen Frauenfreundschaft im Wandel der Zeit und ein intensives Abbild einer hochgradig toxischen Co-Abhängigkeit zweier Frauen gezeichnet, deren Lebenswege durch Zufall miteinander verwebt wurden und deren Fäden alles andere als einfach wieder auflösbar scheinen. Ein Abnabelungsprozess, der wichtig ist, für Billie und Cassie, und eine Erinnerung an die Leser*innen, dass nicht jede Freund*innenschaft wertvoll und gesund genug ist, die Zeiten zu überdauern – ungeachtet dessen, wie viel man gemeinsam durchgemacht hat.
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