Rezension zu »When Women Were Dragons« von Kelly Barnhill

»This is what we know: On April 25, 1955, between the hours of 11:45 a.m. and 2:30 p.m. central time, 642,987 American women––wives and mothers, all––became dragons. All at once. A mass dragoning. The largest in history.«

Mit vier Jahren sieht Alex Green im Garten ihrer Nachbarin den ersten Drachen ihres Lebens. Der Drache breitet seine Flügel aus und macht sich auf gen Himmel. Die Nachbarin sieht sie nie wieder. Alex weiß nicht genau, was sie gesehen hat, spürt aber, dass es nichts ist, worüber man redet. Also schweigt sie, erzählt es niemandem. Fast gerät diese Erinnerung in Vergessenheit. Bis zu einem Tag im Jahr 1955, der als »Mass Dragoning« in die Geschichte eingeht: Überall in den USA verwandeln sich Hunderttausende von Frauen und Mütter in Drachen. Die Verwandlung geht bei manchen leise und unauffällig vonstatten, andere hinterlassen eine Spur der feurigen Zerstörung, brennende Häuser, getötete Ehemänner, Arbeitgeber, Liebhaber, Väter. Die Drachen erheben sich und fliegen davon. Eine freiwillige Entscheidung? Ein einmaliges Vorkommnis? Alex erinnert sich an die Nachbarin, Fragen entstehen in ihr, die sie sich nicht traut, zu stellen. Das Land wiederum steht plötzlich vor einer riesigen Lücke, die die zu Drachen gewordenen Frauen hinterlassen. In der Kinderbetreuung, im Haushalt, an Arbeitsstätten. Auch Alex‘ Familie ist betroffen: Ihre geliebte Tante Marla hat sich verwandelt, ihrer Ehemann getötet und ihre Tochter Bea im Kleinkindalter zurückgelassen. Bea lebt fortan bei Alex‘ Familie. Ihre Mutter sagt ihr, Bea sei von nun an ihre Schwester, sei schon immer ihre Schwester gewesen. Marla wird aus der familiären Erinnerung gelöscht, ihr Name darf nicht mehr erwähnt werden. Ein kollektives Vergessen und Verdrängen setzt ein und macht sich im ganzen Land breit. Drachen sind etwas anstößiges, etwas zutiefst feminines und privates, das weder in der Öffentlichkeit noch im Kreis der Familie erwähnt werden darf. Zum Schweigen erzogen, wächst Alex in einer Welt auf, über der eine für alle offensichtliche Frage schwebt, die von niemandem gestellt oder beantwortet werden darf. Mit einer überfürsorglichen wie harten Mutter, einem abwesenden Vater, einer Schwester, die eigentlich Cousine ist und einem Lebenstraum, dem ihr biologisches Geschlecht im Weg steht. Mit den Jahren lernt Alex, zu schweigen und Verantwortung zu tragen, es wird zu ihrer zweiten Haut, es hält sie zusammen, als ihre Welt Stück für Stück zerbricht. Und je weiter sich Alex von den Drachen entfernt, desto mehr scheint Bea mit dem Feuer zu spielen. Denn die Drachen bleiben nicht verschwunden und die Verwandlungen fangen gerade erst an.

»Perhaps this is how we learn silence––an absence of words, an absence of context, a hole in the universe where the truth should be.«

Was hier als Fantasy anklingt, ist in Wahrheit eine beeindruckende, fesselnde, starke, grandiose literarische Utopie voller Symbolismus und Subversion. Frauen werden zu Drachen – eine Verwandlung als Befreiungsakt, mehr als eine Auflehnung gegen das Patriarchat, vielmehr ein Stürzen desselbigen: Es ist eine tiefschürfende Unzufriedenheit, Unmut, Wut mit den einengenden, begrenzten Lebens- und Rollenvorstellungen, die für Frauen in den 1950ern vorgesehen sind, aus denen diese Frauen ausbrechen, in dem sie zu etwas anderem werden. Zu mehr werden, larger than life auf eine Art. Ein inneres Feuer, eine generationsübergreifende Wut, die sie drängen, nichts mehr zu verstecken, sondern frei zu sein, sich zu entfalten, zu erheben und auszubrechen aus dem Leben, das für sie vorgesehen ist. Einst unterdrückt, endlich entfesselt und wiedergeboren. Es liegt eine Stärke in diesem Symbolismus, mit der ich so nicht gerechnet habe. Es ist ein notwendig überzeichnetes wie wirkungsvolles Bild, das durch die Kraft der Fantastik ein beeindruckend komplexes Abbild der Gesellschaft der 1950er Jahre erschafft und die vielfältigen, systemischen Spuren von Misogynie und Sexismus herausarbeitet, kritisiert und als nie endende, wütende Schöpfungsquelle für weibliche Selbstermächtigung zeichnet. Dieses Buch ist so magisch wie realistisch und Alex‘ Geschichte eine, die mitten ins Herz trifft. Das Leben eines Mädchens, die zu einer jungen Frau wird, geprägt von Schweigen, Fragen und dem Gefühl, dass da etwas ist, das sich ihrer Reichweite entzieht und doch so wesentlich, ursprünglich, gewaltig ist und wartet. Eine junge Frau, die zu früh zu viel Verantwortung übernehmen muss. Die auf ihre eigene Art nicht in ihr Leben und in das passt, was andere von ihr erwarten: ihre Liebe zur Mathematik, für die sie kämpft und für die sie es immer wieder mit ihrem Vater, ihren Lehrer*innen und der Gesellschaft aufnimmt, die allesamt keinen Sinn darin sehen, die Interessen und Fähigkeiten eines Mädchens zu fördern, weil sie für sie doch nur eine Zukunft als Mutter und Hausfrau vorsehen. Die kein Interesse hat an Männern und daran, die lieber Alex genannt werden will als Alexandra. Die nicht still und hübsch sein will, sondern laut und frei das zu tun, was sie vom Leben begehrt. Die eine Mutter hatte mit einst ganz ähnlichen Träumen und einer Welt, die ihr aber ihren Willen aufgezwungen hat. Es steckt so unendlich viel zwischen diesen Zeilen, das es mir unmöglich ist, dem gerecht zu werden. Es ist auch eine Geschichte von Familie, den Formen von Mutterschaft, von Liebe und dem, was möglich ist, wenn Frauen füreinander da sind. Eine Erzählung von Gemeinschaft und Zusammenhalt, Verantwortung und Selbstentfaltung, Drachen und Frauen und Mädchen. Alle eins.

»There are memories that we carry that are not our own.«

Manchmal findet man ein Buch, das einen trotz allem, was man schon gelesen hat, von Grund auf überrascht. Ein besonderes Buch. Ein Buch mit einer so starken Message, dass der Inhalt zu mehr wird als einem Buch. »When Women Were Dragons« hat mich schlichtweg umgehauen in seiner Schönheit, Komplexität und Schlagkraft.

»All women are magic. Literally all of us. It's in our nature.«




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Daten zum Buch
Titel: When Women Were Dragons
Autor*in: Kelly Barnhill
Sprache: Englisch
Verlag: Hot Key Books
Taschenbuch | 342 Seiten | ISBN: 978-1-4714-1222-6

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