Rezension zu »Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben« von Anika Decker
Nina ist fast 50, hat zwei erwachsene Kinder, arbeitet als unterbezahlte Produktionsassistentin und lebt nach ihrer Scheidung in einer Anderthalb-Zimmer-Wohnung in Berlin. Des lieben Friedens und der Kinder willen pflegt sie ein halbwegs gutes Verhältnis zu ihrem Ex-Mann Phil, der trotz angeblichen Bankrotts in einer repräsentativen Villa lebt. Gemeinsam mit seiner Frau Lulu, für die er damals Nina verlassen hat: fast halb so alt wie sie, Influencerin, Mutter seiner beiden kleinen Zwillinge. Nicht, dass sie ihm noch hinterhertrauern würde oder eifersüchtig wäre, eigentlich ist sie froh, ihn loszuhaben. Aber dass sie in einer kleinen Wohnung mit wenig Gehalt zurechtkommen muss, während er als Kanzleipartner in einer schicken und repräsentativen Villa lebt, stört sie schon ein wenig. Und die Wechseljahre tun mit Aggressionen, Gefühlen und seltsamen Anwandlungen des Körpers ihr übriges dazu. Mit der Liebe und dem Sex hat Nina sowieso schon abgeschlossen. Doch dann passiert das Unerwartete. Am unwahrscheinlichsten Ort – der Geburtstagsparty der Zwillinge – lernt Nina David kennen. David ist jung, wird demnächst erst 30, ist attraktiv und hört zu. So schnell kann es manchmal gehen, eine Begegnung reicht und Nina ist verliebt. Noch unglaublicher: Auch David fühlt sich zu Nina hingezogen. Nach einer gemeinsamen Nacht, die Ninas lange schlummerndes Begehren von Neuem entfacht, setzt jedoch die Sorge ein. Hätte die Beziehung mit einem 20 Jahre jüngeren Mann überhaupt eine Zukunft oder sollte sie sich lieber jetzt sofort zurückziehen, bevor sie ernsthaft verletzt wird? Und plötzlich hat jede*r eine Meinung zu ihr und David: Was bei Phil und Lulu nicht der Rede wert ist, scheint andersrum ein Skandal zu sein. Ihren Kindern ist Nina peinlich, ihre Schwester Lena hat kein Verständnis, nur ihre beste Freundin und Arbeitskollegin ist auf ihrer Seite. Lena wiederum hat ganz eigene Probleme, denn auch in ihrer Ehe ist die Luft raus, während sie sich zeitgleich bemüht, in Lulus Clique von Momfluencerinnen Fuß zu fassen und sich dabei der Oberflächlichkeit der Berliner Oberschicht hingibt. Währenddessen macht die Gesundheit ihrer Mutter den beiden Schwestern ernsthaft Sorgen und führt dazu, dass sich die Familie mit ihrem Schmerz auseinandersetzt und jahrzehntelanges Schweigen bricht – Chaos, Tränen und Wut inklusive. Achja, und auf Ninas Arbeit laufen die Dinge auch nicht wirklich rund, die ganze Firma scheint das sexuell übergriffige Verhalten ihres Star-Schauspielers zu decken und nur Nina und ihre Kollegin kämpfen für Gerechtigkeit. Am Mit fast 50 muss Nina nochmal alles überdenken, alten Groll loslassen und sich einlassen auf das Neue, Unbekannte.
»Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben« war ganz anders als erwartet, was sowohl toll war als auch ein wenig schade. Denn Klappentext und Titel versprechen eine Liebesgeschichte zwischen Nina und David, aber der Roman ist tatsächlich viel mehr als das. So viel mehr, dass die Liebesgeschichte über weite Teile des Buchs absolut in den Hintergrund gerät und stattdessen eine Geschichte über Familie inklusive Streitigkeiten, alternde Eltern, Alkoholismus, unverarbeitete Trauer usw., die Tücken von Freund*innenschaft sowie eine feministisch-gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit der Medien- bzw. Filmbranche angelehnt an #MeToo wird. Obwohl der Fokus auf Nina liegt, kommen mit Schwester Lena, deren Ehemann und David immer wieder auch andere Perspektiven und Figuren zu Wort. Ich habe dieses leichte, humorvolle und doch tiefgehende Buch super gerne gelesen. Ninas Zynismus, ihre immer wieder durchschimmernde und in Rebellion umschlagende Wut sowie ihre wunderbar authentische und teilweise sehr jugendhafte Verliebtheit haben Spaß gemacht. Eine Sache, die mich zugleich gestört hat als auch wiederum sehr treffend dargestellt wurde: Ninas Hin- und Hergerissenheit ob ihrer Beziehung zu David. Während der Altersunterschied für David und seine Freund*innen überhaupt kein Thema war, sah das für Nina und ihr Umfeld ganz anders aus. Die Beziehung wurde als unpassend, peinlich, zum Scheitern verurteilt, als Aufgebehren einer mittelalten Frau in der Menopause von Nina und als Austoben mit einer reiferen Frau von David dargestellt. Ich würde gerne sagen, dass sich hier in erster Linie ein Generationsunterschied bemerkbar macht, aber auch Ninas Kinder standen dem sehr missfallend und judgemental gegenüber. Ich verstehe, worum es hier geht – der Roman setzt an dieser zweischneidigen und dem Patriarchat geschuldeten Wahrnehmung an, dass älterer Mann und jüngere Frau gesellschaftlich »normal«, ältere Frau und jüngerer Mann jedoch als anstößig gilt – durch Ninas ständige Zweifel, was ihre Beziehung, die Ernsthaftigkeit von Davids Absichten und auch ihren eigenen Körper angeht, war der Roman hier stellenweise aber doch auch leider irgendwie in dieser Problematik verhaftet, die er gleichzeitig als falsch aufzuzeigen versuchte. Hier hätte ich mir ein klareres, selbstbewusstes Statement von Nina zu sich selbst und zu ihrem Begehren gewünscht. Denn selbstbewusst ist Nina. In ihrem Job weiß sie nicht nur um die versteckte und offenkundige Misogynie, sondern setzt sich auch aktiv dagegen zur Wehr. Diese Attitude im Privaten und ein wenig mehr Fokus auf die Beziehung zwischen Nina und David und ich hätte den Roman von vorn bis hinten geliebt. Nichtsdestotrotz ist »Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben« ein unterhaltsamer, aktueller Roman, der toll unterhält, Tiefe bietet und eine herzlich-ehrliche Geschichte über die Schwierigkeiten der Liebe und des Lebens erzählt.
..................................................................
Kommentare
Kommentar veröffentlichen