Rezension zu »Und ich werde dich nie wieder Papa nennen« von Caroline Darian
»Das Kind des Opfers und des Täters zu sein, ist eine schreckliche Last.«
Am 2. November 2020 erhält Caroline Darian einen Anruf von ihrer Mutter Gisèle Pelicot. Man habe ihren Vater so eben verhaftet. Die Vorwürfe seien schwer. Seit Jahren habe ihr Vater, Dominique Pelicot, ihre Mutter ohne deren Wissen mit Medikamenten betäubt, um sie in diesem bewusstlosen Zustand der »chemischen Unterwerfung« zu vergewaltigen, von mindestens 70 anderen Männern vergewaltigen zu lassen, vorzuführen, zu erniedrigen und dabei alles zu filmen. Die Beweise bestehend aus tausenden Videos und Bildern schaffen eine schier erdrückende Beweislast. Nach diesem Anruf ist für Caroline und ihre Familie nichts mehr so wie es einmal war. Ihr Vater ein Vergewaltiger, ein Monster. Nie wieder will sie etwas mit ihm zu tun haben. Er ist nicht mehr ihr einst geliebter Papa, aber ihr Vater, der bleibt er, ob sie es will oder nicht. Der Sturm aus Gerichtsverfahren, Anwaltsgesprächen, immer neuen Erkenntnissen und medialer Berichterstattung, der in den kommenden Jahren bis zur Urteilsverkündung im Dezember 2024 über die Familie hereinbricht, hinterlässt tiefe Spuren in der einst glücklich wirkenden Familie. Als Caroline im Laufe der Beweisaufnahme erfährt, dass es auch von ihr Fotos schlafend in Unterwäsche gibt, zerbricht ihre Welt aufs Neue.
»Höchster Grad der Perversion: Mein Vater, der immer Geldprobleme hatte, hat mit Mama keinen Handel getrieben. Er hat es also nur für das eigene Vergnügen getan.«
Ehrlich gesagt weiß ich kaum, wie ich Worte finden soll für dieses Buch. Ich bewerte es nicht, nichts wäre unpassender. Nein, ich lasse die unglaublich starken, mutigen, persönlichen und wichtigen Worte von Caroline Darian für sich alleine stehen. Und schenke diesem Buch hiermit trotzdem die Aufmerksamkeit, die es so unendlich sehr verdient.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie viel Mut es benötigt hat, dieses Buch zu schreiben. Die eigene unmittelbare Lebens- und Familiengeschichte so aufzuarbeiten und für ein Publikum fühlbar zu machen. Und doch kann ich mir kaum etwas Wichtigeres und vielleicht auch Heilvolleres vorstellen. Denn durch »Und ich werde dich nie wieder Papa nennen« nimmt sich Darian die Handlungsmacht über ihr Narrativ wieder, das ihr erst von ihrem Vater, dann von der Presse genommen wurde. Es ist eine Stärke hinter den Worten, ein mutmachender Appell an andere Betroffene. Ein kritischer Blick auf ein Gesundheits- und Rechtssystem, das bei der Betreuung und Sorge um die Opfer noch immer versagt. Es ist ein gesamtgesellschaftlicher Aufruf, endlich die Scham auf die Seite der Täter(*innen) zu verlagern. Weg von den Opfern. Ehrlich und ungeschönt erzählt Darian uns von der schlimmsten Zeit in ihrem Leben. Von Angstzuständen, Ohnmachtsgefühlen, dem Wunsch, die eigene Mutter zu beschützen, und doch auch offenes Unverständnis über deren Methoden, das Geschehene zu verarbeiten und zu verdrängen. Und es ist ein Weckruf an alle, auf die feinen Anzeichen zu achten. Aufmerksam zu sein, wenn sich ein mulmiges Gefühl einstellt, denn »chemische Unterwerfung« ist eine Art des Missbrauchs, die weit häufiger verbreitet ist als man hoffen möchte.
»Abgesehen von dem Gespräch mit der Psychologin des Kommissariats, das weniger als eine Stunde gedauert hat, wurde meiner Mutter keinerlei medizinische Unterstützung angeboten.«
Der Text ist immer wieder durch Erinnerungen an ihre Kindheit und einen liebenden Vater unterbrochen, der zum bestialischen Monster wurde oder schon immer eins war. Können sie überhaupt noch nebeneinander bestehen, das Wissen um seine wahre Natur und die liebevollen Erinnerungen, in denen er einfach nur ein Vater war? Und wenn ja, wie? Es ist diese Unvereinbarkeit, diese emotionale Zweispaltung, die »Und ich werde dich nie wieder Papa nennen« tief durchdringt und das Gelesene so unfassbar nahbar macht. Wie erklärt man seinem kleinen Sohn, dass der geliebte Opa nie mehr wieder kommt, weil er ein brutaler Vergewaltiger ist ohne Spuren auf seiner jungen Seele zu hinterlassen, die für immer bleiben? Wie durchbricht man den Kreislauf des angerichteten Schadens von Generation zu Generation? Wie lebt man weiter nach einem Grauen wie diesem?
»Ich werde ihm nie verzeihen, was er in all den Jahren getan hat. Und doch bleibt mir das Bild des Vaters, den ich zu kennen glaubte.«
Denn das – dieser alles andere in den Schatten stellende Lebenswille Darians – ist das, was mir von »Und ich werde dich nie wieder Papa nennen« am stärksten in Erinnerung bleiben wird. Aus der größten Verzweiflung, der schlimmsten Erfahrung, schöpft Darian Kraft. Gründet Organisationen, die sich für missbrauchte Frauen einsetzen. Arbeitet mit anderen beeindruckenden Frauen zusammen, um die Betreuungssituation von Betroffenen in Verbindung von Kranken- und Rechtssystem zu optimieren. Steht an der Seite ihrer Mutter, setzt sich ein für ein eine veränderte, bessere Gesetzeslage und setzt Stück für Stück ihre Familie neu zusammen. Damit endlich, endlich, endlich die Scham die Seite wechselt.
»Wehren wir uns gegen das Unerträgliche.«
Allen, die sich in der emotionalen Lage fühlen, dieses Buch zu lesen, kann ich es nur von ganzem Herzen empfehlen. Es ist so wichtig. Es ist so furchtbar. Es ist so persönlich und kraftvoll und gut.
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Ich traue mich nicht das Buch zu lesen. Aber ich habe den allergrößten Respekt vor diesen Frauen.
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