Rezension zu »Flusslinien« von Katherina Hagena
»Wenn das, was gesagt wird, vorgegeben ist, sind die Menschen dazu gezwungen, ihr Schweigen zu verfeinern.«
Margrit ist 102 Jahre alt und für ihr Alter noch ziemlich auf Zack. Geistig und auch körperlich fitter als so manch andere in der Senior*innenresidenz an der Elbe, die sie inzwischen ihr Zuhause nennt. Und dennoch wartet Margrit auf den Tod, der inzwischen schon fast zum Greifen nahe scheint. Es ist ein warmer Frühling und so verbringt Margrit ihre Tage gerne im Römischen Garten. Dort erinnert sich die einstige Stimmbildnerin, lässt ihre Vergangenheit Revue passieren: ihre Kindheit und Jugend, Erinnerungen an den Krieg, ihren Ehemann, ihre Kinder und Enkelkinder, die Leidenschaft für ihren Beruf, ihre Liebhaber, die Höhen und Tiefen eines Lebens, das ein ganzes Jahrhundert umspannt. Und Margrit erinnert sich an Else, die Architektin dieses Parks und die einstmals große Liebe ihrer Mutter Johanne. Bis Margrit von Heimfahrer Arthur abgeholt wird und wieder in der Gegenwart landet. Dort, in der Gegenwart, wartet Luzie, ihre heiß geliebte Enkelin. Luzie ist achtzehn – jung, stürmisch, bedacht, wütend, stark und verletzt. Ein Wirbelsturm der Emotionen, sie zieht sich zurück, will man zu viel. Eine schwierige Situation, denn Margrit macht sich große Sorgen um Luzie, die vor kurzem kommentarlos die Schule abgebrochen hat, eine verlassene DLRG-Hütte am Elbufer besetzt und unter einem Trauma leidet, über das sie nicht sprechen möchte. Doch Margrit, die ihr Leben damit verbracht hat, anderen dabei zu helfen, ihre Stimme zu finden, kennt andere Wege des Sprechens. Sie bittet Luzie, die nur noch fürs Tätowieren zu brennen scheint, um ein Tattoo. Während Luzie Tag für Tag die Windungen der Elbe auf Margrits Haut zeichnet und dabei ein ganzes Leben verewigt, entsteht im Schweigen ein Gespräch, das beiden ermöglicht, in die Vergangenheit einzutauchen und Heilung zu finden. Bei ihren Besuchen lernt Luzie den 24-jährigen Arthur kennen, der Luzies Schmerz zwar nicht zuordnen, aber doch erkennen kann. Schließlich ist auch in seiner Seele eine Wunde, die sich der Heilung entzieht. Die Arbeit im Heim eine Flucht vor dem, was zu groß ist, um sich ihm stellen zu können. Bis Luzie Fragen stellt und im Ausweichen vor gegenseitigen Antworten Verständnis entsteht und das Gefühl, weniger allein zu sein.
»Du weißt aber, dass das nicht gerecht ist, oder? Du erzählst kaum was, willst aber, dass man dir nachts Licht gibt und morgens Geschichten.«
Margrit, Luzie und Arthur – drei grundverschiedene Menschen, die wir an zwölf warmen Tagen im Frühling begleiten und dabei ein ganzes Leben erfahren. »Flusslinien« ist eins dieser leisen Bücher, die nach und nach einen Sog entfalten. Zu Beginn brauchte ich etwas Zeit, um in die Geschichte einzutauchen, warm zu werden mit der Art der Erzählung. Doch dann ließ ich mich einfach treiben und bin eingetaucht in diese Geschichte, die aus den drei alleinstehenden und doch ineinander überfließenden Perspektiven erzählt wird. Lange habe ich mich gefragt, wohin die Reise wohl geht, und bin am Ende froh, dass das Buch die Antwort auf diese Frage offengelassen hat. Denn wie ein Fluss fließt die Erzählung dahin, windet sich, schafft Nebenarme, Ströme und Sogwirkungen, verliert sich und findet sich wieder – treffender könnte der Buchtitel kaum sein. Doch worum geht es am Ende? Ich glaube, auch das muss hier jede*r für sich entscheiden – die Interpretations- und Identifikationsangebote der Geschichte lassen einen ganz eigenen, individuellen Blick auf das Gelesene zu. Was »Flusslinien« für mich ist: Das (Wieder-)Finden der Stimme – der eigenen, der vererbten, der ausgelöschten, der klein gemachten, der verlorenen, der von jemandem genommenen, der generationsübergreifenden, der Stimme des Körpers. Eine Stimme der Trauer, eine Stimme des Schmerzes und von Traumata, eine Stimme der Liebe und der Annäherung und des Verständnisses. Eine Stimme für das Vergangene und für das Neue. Eine Stimme für das Leben und den Tod. Laut und still. Stark und verletzlich. Eine Stimme zu finden und jemanden, der zuhört.
»Das Finden der eigenen Stimme ist das Schwerste, obwohl es die Stimme ist, mit der es sich am leichtesten singt.«
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