Rezension zu »Wild wuchern« von Katharina Köller
»Und was bleibt, ist der Berg, wie ein schlafender Riese, auf dessen Rücken wir krabbeln.«
Marie ist auf der Flucht. Vor ihrem Ehemann, vor ihrem Leben in Wien. Vor der Welt, die sie doch immer gesucht hat. Er hat sie schon einmal gefunden. Doch dieses Mal darf er es nicht, denn dieses Mal hat sie sich körperlich gewehrt und das wird er ihr nie verzeihen, sollte er es überlebt haben. Und so flieht sie an den einen Ort, der noch Sicherheit verspricht: In die Tiroler Berge. Irgendwo dort oben in den Bergen lebt ihre Cousine Johanna seit Jahren verborgen vor der Welt als Einsiedlerin. Durch Wald und über Felsen rennt Marie inmitten der Nacht, ohne Licht, ohne Richtung, einfach den Berg hinauf. Die Almhütte das unbestimmte Ziel, ein vertrauter wie verhasster Ort. Die Sommer hat sie dort als Kind verbracht, gemeinsam mit Johanna und dem Großvater. Bis sie verjagt wurde und Johanna blieb. Seit Jahren haben Johanna und Marie nicht mehr miteinander gesprochen, sie sind sich fremd geworden. Als sie dann voreinander stehen, prallen Welten aufeinander: die städtische Marie mit ihrer teuren Kleidung und dem Drang zu Reden. Johanna in der abgetragenen Kleidung der Vorfahren, die kein Wort mehr als nötig spricht. Johanna freut sich nicht über Maries Anwesenheit. Marie ist ein Eindringling, ist zu laut, bringt Unruhe in die geliebte Stille, die wilden Tiere kennen sie nicht, haben Angst vor ihr und verstecken sich. Dabei sind sie doch Johannas wahre Freunde. Marie wiederum versucht zu helfen, doch ist sie die harte körperliche Arbeit, die Entbehrung nicht gewöhnt. Zwischen ihnen: ein unausgesprochenes Geheimnis, das schwer wiegt. Warum wurde Marie damals vom Großvater von der Alm verjagt? Zwischen Schweigen, dem kargen harten Leben hoch droben in den Bergen und einer Einsamkeit, die beide auf ganz unterschiedliche Weise fühlen, begegnen sich zwei Frauen, die einst wie Geschwister waren und nun Fremde sind.
»Vor der Kraft in mir selbst hab ich ja vielleicht noch viel mehr Angst als vor der Kraft, die von außen auf mich einwirkt. Die kenn ich nämlich noch gar nicht, diese Kraft. Und ständig überrascht die mich. Ist viel größer als ich dachte.«
»Wild wuchern« hat mich trotz all der begeisterten Rezensionen, die ich im Vorfeld gelesen hatte, absolut überrascht. Denn hier ist kein Wort zu viel, jedes genau am richtigen Platz. Die Erzählung ist so rau und minimalistisch im Ton, untermalt von österreichischem Dialekt und einem gewissen unterschwelligen Humor und dadurch unglaublich stark in ihrer Wirkung. Es passte – zu den Figuren, zur Geschichte, zur Landschaft. Eine Beschränkung aufs Wesentliche, durch die so viel mehr erzählt wurde als manch anderes Buch mit der doppelten Menge an Seiten schafft. Stilistisch eins der beeindruckendsten und mitreißendsten Bücher seit langem. Und auch der Inhalt hat einen Sog entfaltet, dem ich mich kaum mehr entziehen wollte. Denn die Naturbeschreibungen haben mich direkt in die raue Bergwelt versetzt, die Porträtierung von Marie und Johanna hat mich für die beiden Frauen eingenommen. All die unausgesprochenen Worte zwischen ihnen waren so fühlbar beim Lesen wie das Wetter in den Bergen. Hier wird viel erzählt und nicht erzählt, hier ist viel, das man fühlt statt liest. Zwei Frauen, im Kampf miteinander, mit sich selbst, mit der Natur, mit der Welt, in der sie leben. Ein Buch über unterschiedliche Lebenswege, über das, was wir bereuen, über gegenseitiges und Selbstverständnis, über Zusammenhalt und die unbändige Kraft der Berge. Ein sprachlich wie inhaltlich faszinierender Roman übers Frausein, über Gewalterfahrung, über das Ausbrechen aus misogynen Gesellschaftsstrukturen. Wild wuchern, Freiheit, Selbstentfaltung, Naturkraft sein – statt eingetopft wie eine Zimmerpflanze vor sich hinzuvegetieren und von den Launen anderer abhängig zu sein.
»Ich war dort, wo man mich hingepflanzt hat, wie ein Ziergewächs in einem Topf. Jetzt bin ich hier und wuchere. Und niemand mehr da, der mich stutzt.«
..................................................................
Kommentare
Kommentar veröffentlichen