Rezension zu »Women« von Chloé Caldwell


 »Ich schätze, wir brauchten beide etwas voneinander.«

Eine junge Autorin zieht vom Land in die Großstadt. Dort verliebt sie sich in eine Frau – »unbegreiflicherweise, unausweichlich und unrettbar«. Es ist das erste Mal, dass die Autorin Gefühle und Interesse für eine Frau in sich spürt, bisher hatte sie nur Erfahrungen mit Männern gesammelt. Doch Finn ist faszinierend, trägt teure Männerkleidung, hat Augen, die je nach Stimmung die Farbe zu wechseln scheinen. Und Finn ist 19 Jahre älter als die Autorin, bereits in ihren 40ern und lebt seit 10 Jahren in einer lesbischen Beziehung. Die gegenseitige Anziehung überwiegt die möglichen Bedenken und Gewissensbisse, schnell kommen sich die Autorin und Finn näher, verlieben sich ineinander, schlafen miteinander, verlieren sich ineinander. Vielleicht ist auch nur die Autorin, die verloren geht. Verloren geht darin, plötzlich an ihrer Identität und Sexualität zu zweifeln – ist sie etwa lesbisch, jetzt wo sie sich derart zu einer anderen Frau hingezogen fühlt? Verloren geht in Finn, die die Regeln für ihr Miteinander festlegt, die kommt und geht, die fordert und nimmt und gibt, wie es ihr beliebt. Ein Machtungleichgewicht, das sich zunehmend negativ auswirkt auf die Autorin und ihr Verhältnis, irgendwo zwischen Affäre und Beziehung. Aus anfänglicher Lust und Liebe wird bald Streit, wird bald Schreien, werden Tränen und Verzweiflung. Sie trennen sich, schreiben sich unzählige Mails, treffen sich, begehren sich, streiten sich, ein Kreislauf aus Begierde und Abneigung. Über allem schwebt für die junge Autorin die Frage nach der eigenen Identität, nach den eigenen Bedürfnissen, nach der Vorstellung des eigenen Lebens.

»Sie besaß mich. Weil ich es zuließ. Sie hatte mich ganz im Griff.«

»Women« gilt in den USA als Klassiker der queeren Literatur. Ein Kultroman, erstmals 2014 erschienen, der lange Zeit ein Insider war, vergriffen, kaum zu finden, weitergegeben als persönliche Empfehlungen queerer Frauen* für einander. Und der doch seinen Weg in die Hände so vieler queerer Personen gefunden hat. Mit einem Vorwort der Autorin Katie Heaney und einem Nachwort von Chloé Caldwell 2024 erscheint »Women« nun erstmals in deutscher Übersetzung. Ich verstehe absolut den Kultstatus dieses Romans. Denn »Women« ist auf die faszinierendste Art zugleich absolut verankert in den frühen 2010er Jahren, zum Beispiel durch die Alltagskommunikation über E-Mails und die Nichterreichbarkeit, wie vollkommen losgelöst von Zeit. Denn die Geschichte, die erzählt wird, ist so überindividuell wie zeitlos: Ein Porträt einer queeren Liebesgeschichte. Die Identitätssuche einer jungen Frau, deren Leben durch die Begegnung und Gefühle für eine andere Frau auf den Kopf gestellt wird. Die Höhen und Tiefen einer Beziehung. Die Dynamik und Problematik einer Beziehung mit einem Ungleichgewicht an Macht – der Altersunterschied, der Erfahrungsunterschied, die Affäre zu sein. Ein essayhafter und wirklich schön zu lesender Roman, dessen Stil das Innenleben der Erzählerin so wunderbar treffend spiegelt. Ein Roman, der sich mit einer konkreten Erfahrung auseinandersetzt und dabei doch so viele universelle Fragen nach Liebe, Sexualität, Begehren und Identität stellt, beantwortet, aufwirft, offenlässt. Ein Roman mit Identifikationspotenzial, ein Roman für alle, ob queer, hetero oder auf der Suche. Für mich hat »Women« zurecht den Status eines Kultbuchs und ich hoffe, dass dieser Roman nun auch in der deutschen Übersetzung viele erreicht.

Um es mit den Worten Caldwells zu sagen:

»Denn letztendlich geht es nicht um Gender, Sexualität, Schubladen oder Identitäten, auch wenn unsere Kultur es gerne so hätte. Es geht um Menschlichkeit.«




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Daten zum Buch
Titel: Women
Autor*in: Chloé Caldwell
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Simone Jakob
Verlag: Eichborn
Hardcover | 192 Seiten | ISBN: 978-3-8479-0208-9

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