Rezension zu »Das Schweigen meiner Freundin« von Giulia Baldelli

Giulia ist 60 und krank, als sie an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt. Nachts sitzt im Wald, wartet auf Cristi, von der sie weiß, dass sie nicht kommen wird, und erzählt der Stille des Waldes ihre Geschichte. Mit 10 Jahren lernt Giulia die siebenjährige Cristi kennen. Während Giulia ihr Leben in dem kleinen italienischen Örtchen verbringt, kommt Cristi nur über den Sommer. Ihre Mutter Lilli, um die sich im Ort die Gerüchte drehen, lädt ihre Tochter zu Beginn des Sommers bei Cristis Großmutter ab. Cristi weiß nicht, wann ihre Mutter sie wieder zu sich nach Bologna holt – oder ob überhaupt. Cristi ist ein seltsames Kind: still, ein Wildfang, ungebunden, kann kaum lesen oder schreiben. Auf Anweisung von Giulias Mutter soll sich Giulia ihrer annehmen. Die anderen Kinder im Ort lästern über Cristi, schließen sie aus. Und auch Giulia könnte sich besseres vorstellen, als ihre Zeit mit dem Mädchen zu verbringen, das nicht mit ihr reden kann oder möchte. Doch über den Sommer kommen sich die beiden Mädchen näher, eine stille Verbundenheit entsteht. Ein leiser unschuldiger Kuss. Am Ende des Sommers holt Lilli Cristi ohne Ankündigung zurück nach Bologna und in Giulia macht sich eine seltsame Leerstelle auf. Bis Cristi im Jahr darauf wieder vor ihr steht. Die beiden Mädchen verbringen jede freie Minute zusammen. Ein Sommer, der so schön sein könnte. Bis Mattia die Wege der beiden kreuzt. Mattia, so alt wie Giulia und wie Cristi den Sommer über im Ort. Mattia, der nur Augen für Cristi hat. Cristi, die sich mit Mattia auf eine Weise zu verstehen scheint, die sich Giulias Verständnis entzieht. Tief in ihrem Bauch spürt Giulia zum ersten Mal in ihrem Leben Eifersucht. So werden aus einem Sommer mehrere. Intensive Sommer gefüllt mit den Resten kindlicher Unschuld und einem Gefühlschaos, in dem sich die beginnende Jugend Raum verschafft. Und immer noch ist da Mattia. Mattia, mit dem Cristi zunehmend alleine die Tage verbringt und an den Abenden zurückkehrt zu Giulia. Ein weiterer Kuss. Haben sich Cristi und Mattia auch geküsst? Zerrissen zwischen dem Wunsch nach Wissen und seliger Unwissenheit. Am Ende des vierten gemeinsamen Sommers holt Lilli Cristi ab – und bringt sie nicht mehr zurück. Für Giulia geht das Leben weiter und doch bleibt die Erinnerung an Cristi so lebhaft wie drückend. In den folgenden Jahren erlebt sie familiäre Tiefschläge, macht sexuelle Erfahrungen, entscheidet, Anwältin werden zu wollen. Giulia macht ihr Abitur mit Bravour, zieht nach Bologna in ein Apartment, das kaum den Namen verdient, und beginnt ihr Jurastudium. Als Cristi wieder in ihr Leben tritt, ist Giulia in ihren frühen 20ern. Wie üblich, lädt Lilli ihre Tochter ab. Diesmal in Bologna, zum Studium. Cristi, immer noch schweigsam, erzählt nichts über die letzten Jahre, hängt sich an Giulia und bittet sie, sie bei sich wohnen zu lassen. Giulia, die noch immer machtlos ist, wenn es um Cristi geht, lässt Cristi wieder in ihr Leben und teilt sich fortan ihr kleines Zimmer – und bald auch ihr Bett. Die Leidenschaft zwischen den beiden ist stärker denn je. Es könnte der Anfang von etwas Großem, Schönen, Bedeutendem sein. Doch so sehr Giulia sich vor der Wahrheit zu verstecken sucht, ahnt sie doch, dass auch Mattia noch immer einen Platz in Cristis Leben und Herzen hat.

Was ich hier im vielleicht längsten Inhaltstext meiner bisherigen Rezensionen beschreibe, ist nur ein ganz kleiner Abschnitt eines Buches, das in seiner Gänze ein knappes halbes Jahrhundert umfasst. Was ich hier beschreibe, ist die Rahmenhandlung eines Romans, der mich so unerwartet getroffen hat, dass ich immer noch ein klein wenig sprachlos bin. »Das Schweigen meiner Freundin« hat mich überrascht, aufgewühlt, tief bewegt. So sehr, dass ich mich, nachdem ich das Buch vor dem Schlafengehen beendet hatte, ein bisschen in den Schlaf geweint habe, weil ich meine Gefühle nicht mehr von Giulias trennen konnte. Was Baldelli hier erschaffen hat, ist ein Buch, das tief geht, sich echt anfühlt, das überindividuelle und starke Gefühle in eine persönliche Geschichte packt. Es ist die Geschichte von Giulia, aber auch die von Cristi und Mattia. Es ist die Geschichte dreier, auf ihre Weise verlorener, Kinder. Kinder, aus denen Erwachsene werden, immer noch verloren, auf der Suche nach Sicherheit und Halt. Es ist die Geschichte einer komplizierten Dreiecksbeziehung. Cristi, die Schweigsame, Zerbrechliche, verschwommen Bleibende. Sie braucht beide. Mattia, mit dem sie fliegen kann. Giulia, die ihr Festland ist. Giulia und Mattia, zwei Überlebende Cristis. Zwei, deren Leben erst Sinn erhalten hat durch Cristi. Eine Geschichte von Begehren und Abhängigkeit und Liebe und Schmerz. Es ist die Geschichte davon, sein Leben lang jemanden zu lieben, der für jemand anderen bestimmt ist. Es ist die Geschichte davon, sein Leben lang zwei Menschen zu lieben, sie zu brauchen aus unterschiedlichen Gründen. Es ist die Geschichte davon, sein Leben lang jemanden zu lieben und darauf zu hoffen, dass eines Tages das Timing stimmt. Es ist die Geschichte des Lebens, mit Höhen und Tiefen, mit falschen Entscheidungen, mit Fehlern, die sich nicht mehr korrigieren lassen, mit Hoffnung und Verlust und den Sorgen der Welt. Es ist eine Geschichte, die die Komplexität von Gefühlen, von Freund*innenschaft, von Liebe und Abhängigkeit seziert, unter die Lupe nimmt, fühlen lässt. Es ist eine Geschichte für die all die Worte, die ich noch finden könnte, nicht ausreichen würden, weil es eine Geschichte ist, die erlebt und gefühlt werden möchte. Es ist eine Geschichte, die so unerwartet wie kompromisslos mein Herz Stück für Stück zerbrochen und zeitgleich wieder zusammengesetzt hat. Am Ende die Gewissheit: Dieses Buch ist ein Wirbelwind, wie Cristi zieht es in seinen Bann, hinterlässt emotionales Chaos und das Gefühl, etwas gewonnen und verloren zu haben, ohne das man nun nicht mehr leben kann. Simply, wow.




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Daten zum Buch
Titel: Das Schweigen meiner Freundin
Autor*in: Giulia Baldelli
Sprache: Deutsch
Aus dem Italienischen übersetzt von Elisa Harnischmacher
Verlag: DuMont
Hardcover | 496 Seiten | ISBN: 978-3-8321-6800-1

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