Rezension zu »Urlaub vom Patriarchat« von Friederike Oertel

»Nicht die Natur hat entschieden, was eine Frau ist und was ein Mann, was trans ist und was queer. Das waren immer Menschen, das war Kultur.«

Friederike Oertel ist müde und erschöpft. Vom Alltag, vom Studium, vom Job in der Medienbranche, vom Leben im Patriarchat. Abwechslung muss her, Ausbrechen aus alten Denkmustern. Dann erinnert sie sich an ein Buch über die Stadt Juchitán im Süden Mexikos. Bekannt als »Stadt der Frauen« soll dort eines der letzten noch existierenden Matriarchate der Welt zu finden sein. Denn dort lebt die Gesellschaft seit Jahrhunderten in matriarchalen Strukturen, sind Frauen die Oberhäupter der Familie, vererbt wird von der Mutter an die Tochter, Markthandel und Feierlichkeiten sind Frauensache und mit den Muxe existiert ein drittes, gesellschaftlich anerkanntes Geschlecht. Friederike beschließt, genau an diesen Ort zu reisen, an dem sie drei Monate verbringen wird. Unterstützt von Juana, eine Einheimische, die ihr ein freies Zimmer in ihrem Haus als Bleibe anbietet und eine Freundin wird, erkundet Friederike in den folgenden Wochen Juchitán. Der perfekte Ort, um sich vom Patriarchat zu erholen – oder nicht? 

Während Friederike tief eintaucht in die Geschichte und den Alltag Juchitáns stellt sie jedoch fest, dass nicht alles so klar und einfach ist, wie es den Anschein macht. Denn auch hier existieren patriarchale Strukturen, Politik ist Männersache, die Muxe sind akzeptiert, jedoch nur, wenn sie sich an bestimmte Rollenerwartungen richten. Gewalt, Drogen und Kartellkorruption sind auch in Juchitán ein zunehmendes Problem. Und einige Traditionen, wie der Brautraub, triefen vor patriarchalen Einflüssen und frauenab- und bewertendem Verhalten. Wie ist all das miteinander vereinbar in einer Gesellschaftsform, die als Matriarchat bezeichnet wird? Nun, hier wird es spannend. Denn zuerst muss festgehalten werden, dass nicht die Bewohner*innen Juchitáns sich als Matriarchat bezeichnen, sondern diese Bezeichnung von – in erster Linie eurozentrisch beeinflussten – Forscher*innen stammt, die im 20. Jahrhundert nach Juchitán kamen. Und so muss sich auch Friederike während ihres Aufenthalts immer wieder mit ihrer eigenen, westlich sozialisierten Sichtweise auf die Menschen und Verhaltensweisen vor Ort auseinandersetzen. Dabei hinterfragt sie nach und nach ihre eigenen Einstellungen und Denkmuster in Bezug auf Beziehungen, Geschlechterrollen, Gemeinschaft.

Untermalt und unterstützt wird Friederikes Reise- und Erfahrungsbericht dabei immer wieder von soziologischen Exkursen in die Geschichte der Menschheit, anhand derer sie die Entwicklung patriarchaler Gesellschaftsformen nacherzählt. Besonders interessant fand ich dabei den häufig vorherrschenden Denkfehler, das Matriarchat als Gegenteil des Patriarchats zu verstehen oder verstehen zu wollen. Doch was ein Matriarchat oder zumindest matriarchale Strukturen sind, ist nicht klar definiert und kann von Ort zu Ort – und von Zeit zu Zeit – anders sein. Fest steht jedoch, dass es matriarchale Strukturen schon seit Jahrtausenden gibt, in verschiedenen Ausprägungen und mit unterschiedlichen Entwicklungen. Während das Patriarchat hingegen mit Blick auf die Menschheitsgeschichte eine relativ neue Entwicklung ist – ein Gesellschaftskonzept unter vielen und – das ist die gute Nachricht – keines, das unweigerlich bestehen bleiben muss und wird.

Aber auch persönliche Rückblenden in ihre Kindheit und Jugend und das Aufdecken von patriarchalen Erziehungsmustern und anerlernten Verhaltensweisen findet in »Urlaub vom Patriarchat« seinen Platz und erschafft so in Gänze einen fundierten wie persönlichen Reise- und Erfahrungsbericht. Obwohl die Erzählung für mich an der ein oder anderen Stelle etwas zu aus- und abschweifend ausfiel und ich gerne noch detaillierten in das Leben in Juchitán eingetaucht wäre, habe ich »Urlaub vom Patriarchat« sehr genossen und besonders wegen der differenzierten, selbstkritischen Betrachtung der Kultur Juchitáns durch die Autorin geschätzt. Wie Friederike nach ihren drei Monaten in Juchitán bin ich nach dem Lesen ihres Berichts ein wenig klüger, habe eine mir neue Kultur und neue Gesellschaftsform kennengelernt und Impulse sammeln können, wie eine Welt aussehen könnte, die sich ein wenig mehr vom Patriarchat entfernt und stattdessen einer Welt zuwendet, die Menschen nicht aufgrund ihres Geschlechts in vorgefertigte Schubladen zu pressen versucht.

»Vielleicht ist das eine der größten Ambivalenzen, die es auszuhalten gilt: Zu verstehen und anzuerkennen, dass ich Teil dieser Welt bin, dass mich das Patriarchat prägt, beeinflusst und kleinhält, ob ich will oder nicht – und dabei nicht den Mut zu verlieren, es infrage zu stellen und verändern zu wollen.«




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Daten zum Buch
Titel: Urlaub vom Patriarchat
Autor*in: Friederike Oertel
Sprache: Deutsch
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Paperback | 336 Seiten | ISBN: 978-3-462-00628-5

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