Rezension zu »Evil Eye« von Etaf Rum

Yara, Tochter palästinensischer Einwander*innen, hat es geschafft: Sie hat ein abgeschlossenes Studium, einen guten Job an der Uni. Nach der Halbtagsarbeit kümmert sie sich um ihre beiden Töchter und den Haushalt und sorgt dafür, dass ein warmes Essen auf dem Tisch steht, wenn ihr Ehemann Fadi nach Hause kommt. Auf den ersten Blick ein gutes Leben. Alles ganz so, wie es von ihr erwartet wird. Wie ihre Familien und ihre Kultur es erwarten. Von außen sieht niemand, dass ihre Ehe mit Fadi arrangiert wurde, für Yara die Chance auf Flucht aus dem Elternhaus war. Doch Yara ist nicht so glücklich, wie sie es sein sollte. Sie ist ständig müde, ausgebrannt, wütend nahezu. Sie wird den Erwartungen von Fadi und besonders ihrer Schwiegermutter nicht gerecht. Sie solle langsamer machen, sich auf ihre familiären Pflichten konzentrieren, den Job habe sie gar nicht nötig, Fadi verdiene schließlich genug. Kein Job ist gleich weniger Erschöpfung und Yara eine bessere Mutter und Ehefrau. Doch Yara wehrt sich, versucht, beides zu schaffen. Weil der Job ihr ein Leben außerhalb des Hauses ermöglicht, weil sie ihren Job gerne macht und selbstständig sein will. Doch nach und nach gerät Yaras fragiles Kartenhaus ins Wanken, ihre Wut und Verzweiflung nehmen zu, werden laut und sichtbar. Als sie nach einem Vorfall auf der Arbeit suspendiert und ihr eine Therapie verordnet wird, um ihren Job wiederzuerlangen, beginnt Yara – zuerst widerwillig – sich ihren Gefühlen zu stellen, ihnen auf den Grund zu gehen. Die Wahrheit über Yaras Gefühle führt sie tief in die Leben ihrer Mutter und Großmutter und lässt sie bald ihr gesamtes Leben in Frage stellen. 

»Evil Eye« ist eins dieser Bücher, die im Gedächtnis bleiben. Weil es auf emotionaler Ebene so viel mit mir gemacht hat. Ich war oft wütend beim Lesen, stellenweise fassungslos, hatte Mitgefühl und Mitleid, aber auch Hoffnung. Denn Yaras Leben und Gefühlswelt waren so greifbar, so nah. Es ist das Leben einer amerikanisch-palästinensischen jungen Frau, das von Kindheit an geprägt und tief durchdrungen ist vom Widerspruch beider Kulturen. Aufgewachsen in einem Haushalt mit einem dominanten Vater, dessen Gemütslage und patriarchale Vorstellungen jeder Zeit und schnell ins Unschöne wechseln konnten, und einer Mutter, die mehr und mehr verstummte, unsichtbar wurde. Aufgewachsen in einer Welt, in der sie die Freiheit nur riechen konnte und als Frau in der Wohnung bleiben musste, während ihre Brüder die Freiheit kosteten. Aufgewachsen in einer Welt, in der sie von Bildung und Studium und einem guten Job träumte und ihr Vater für sie die Rolle der Ehefrau und Mutter vorsah. Später dann hin- und hergerissen durch ihre Liebe für ihre Töchter und dem noch immer bestehenden Wunsch, auch Frau zu sein. Fadi, der ihren Job duldet, so lange sie ihre häuslichen und mütterlichen Pflichten erfüllt – aber eben nur das: duldet. Und so lernen wir Yara kennen: Als starke Protagonistin, die langsam die Ketten aufbricht, die sie an ein Leben binden, das geprägt ist von Widersprüchen, kulturellen Zwängen und einem generationsübergreifenden Trauma, dem Schicksal der Mutter. Anhand von Yara zeigt »Evil Eye« so feinfühlig wie eindrücklich die Auswirkungen auf Psyche und Leben von Frauen auf, die in Strukturen aufwachsen, in denen sie aufgrund ihres biologischen Geschlechts klein gehalten, unterdrückt, eingeschränkt werden. Und spendet zugleich einen Hoffnungsschimmer für eine selbstbestimmte Zukunft, eine Befreiung von Erwartungen anderer, einem Zuwenden zur eigenen Stimme, eine Geschichte über die Notwendigkeit des Aufarbeitens von Traumata, über die Komplexität von Mutterschaft und über das Frausein als Stärke, nicht Hindernis.

 



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Daten zum Buch
Titel: Evil Eye
Autor*in: Etaf Rum
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Heike Reissig
Verlag: Pola
Hardcover | 432 Seiten | ISBN: 978-3-7596-0024-0

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