Rezension zu »Amphibian« von Tyler Wetherall

»By the end of this story, I'll have turned into something else, something frightful.«

Die elfjährige Sissy ist es gewohnt, am Rand zu stehen und Verantwortung zu tragen. Denn ihre Mutter Mou ist nicht wie andere Mütter und ihren Vater kennt sie nicht. Immer wieder packt sie die Depression mit fester Hand, fesselt sie tagelang ans Bett, verwandelt sich Mou von der Mutter zum Kind. Und immer wieder packt Mou der Fluchtreflex. Kürzlich erst haben sie London hinter sich gelassen, um in Westengland neu anzufangen. Dort, in der neuen Stadt, fühlt sich Sissy fremd. Fremd in der Schule, wo niemand mit ihr spricht, und zunehmend auch fremd im eigenen Körper, der langsam anfängt, sich zu verwandeln. Doch als Sissy Tegan zum ersten Mal sieht, möchte sie plötzlich dazugehören. Nicht zur Klasse oder einer Gruppe, nein, zu Tegan. Die ein Jahr ältere Tegan strahlt eine Macht aus, die Sissy magisch anzieht. Und so äußert sie dem Universum gegenüber einen Wunsch, den Wunsch, Tegan möge ihre eine Freundin sein. Ihr Wunsch geht in Erfüllung und plötzlich verändert sich Sissys komplette Welt. Die beiden Mädchen kreieren eine Nähe, die die zwei zu Schwestern macht. Sie teilen ihre Gedanken, ihre Träume und dieses beunruhigende, beängstigende Etwas namens Frauwerden. Denn Tegan ist furchtlos, stark, ihrem Alter weit voraus. Sie chattet online mit fremden Männern, kennt die Wege, wie sie ihren Körper zum Orgasmus bringt, und weiß bereits ganz genau, welches Foto ihr Suchplakat zieren soll, sollte der »Mädchenfänger«, der die Stadt in Schrecken versetzt, auch sie erwischen. Bald merkt Sissy jedoch, dass Tegan Geheimnisse vor ihr hat. So findet die Realität immer wieder Wege, sich in die kindlichen Träumereien und Fantasiewelten der beiden Mädchen zu schleichen – und auch die Pubertät fordert ihren Tribut und stellt die Freundinnenschaft bald auf eine harte Probe. Währenddessen verändert sich Sissy ganz langsam. Nicht zur Frau, sondern zu etwas anderem.

»Frigid. [...] It's what they call you when you don't want to do it, but a boy does. [...] And if you do want to do it, they call you a slut.«

Berührend, bedrückend, befreiend. Das und noch viel mehr ist »Amphibium«. Was uns hier erzählt wird, ist eine faszinierende Geschichte über ein junges Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Gespickt mit einer Prise an magischem Realismus erwartet uns hier ein Coming-of-Age der anderen, besonderen Art. Was habe ich Sissy lieb gewonnen. Was hat mich Sissys Geschichte fühlen lassen. Wetherall schafft es, uns mitten hinein zu katapultieren ins Innenleben einer Elfjährigen, die auf jede erdenkliche Weise zu kämpfen hat – mit ihrer komplizierten Beziehung zu Tegan, mit der Krankheit ihrer Mutter, mit der Einsamkeit, mit ihrem Körper, der sich gegen ihren Willen verändert. Plötzlich spürt sie, die sich immer noch Geschichten der Kleinen Meerjungfrau erzählt, die sich verändernden Blicke der Jungs auf ihr. Hört das Gerede der Mädchen, die plötzlich einsetzende Fokussierung auf Körper und Körperlichkeiten, obwohl kaum eine*r von ihnen bereits wirklich versteht, was Sexualität und Frausein bedeutet. Es ist ein konfuses Konzept, entstanden durch Hören-Sagen, geflüsterte Mythen, halbseidene Aufklärungsversuche und Experimente von Kindern. Dagegen setzt Sissy andere Mythen, ihre Mythen. Geschichten von Mädchen und Frauen, die wie die Kleine Meerjungfrau zu etwas anderem wurden, zu nichts wurden, als man ihnen die Liebe verwehrte. 

»Becoming a woman is dangerous and we're unprepared for it.«

Und obwohl die junge Sissy es noch nicht versteht, die Bedeutung ihrer Gedanken noch nicht greifen kann, weiß sie doch, dass sie das nicht will. Die Blicke, die Fremdbestimmung, die Ab- und Bewertung, die Scham – alles, was es bedeutet, Frau zu sein. Doch was heißt es schon zu wollen, als Frau in dieser Welt? Vielleicht ist es leichter, Amphibium zu werden statt Frau. Vielleicht wartet in der Unsichtbarkeit die Chance, frei, unbeschämt und man selbst zu sein, zu lieben und zu leben und zu begehren. Lest »Amphibium«!

»Girl, creature, animal, woman. Girl, creature, amphibian, myth. We are changing and what we're changing into is of our making. In this story we get to choose.«




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Daten zum Buch
Titel: Amphibian
Autor*in: Tyler Wetherall
Sprache: Englisch
Verlag: Virago Press
Taschenbuch | 310 Seiten | ISBN: 978-0-349-01794-5
In der deutschen Übersetzung von Lisa Kögeböhn erschienen im dtv Verlag

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