Rezension zu »Schwiegermutter« von Moa Herngren
Åsa hat eine enge Beziehung zu ihrem inzwischen erwachsenen Sohn Andreas. Vielleicht, weil es immer nur die beiden als Familie gab, ein eingespieltes Mutter-Sohn-Duo. Vielleicht, weil sie als Mutter als richtig gemacht hat. Darum ist es für Åsa auch eine Selbstverständlichkeit, Andreas und dessen Frau Josefin anzubieten, bei ihr einzuziehen, während deren Wohnung renoviert wird und sie eine Bleibe brauchen. Vielleicht ist das Zusammenwohnen ja die Chance, Josefin endlich näher zu kommen und auch zur Schwiegertochter eine Verbindung aufzubauen. Denn im Gegensatz zu Andreas‘ Ex ist Josefin doch eher zurückhaltend und schwer, aufzutauen. Doch das Zusammenleben entpuppt sich als Belastungsprobe. Bald darauf leben Andreas und Josefin wieder in ihrer eigenen Wohnung, sind inzwischen Eltern eines kleinen Sohnes und Åsa begeisterte Großmutter. Doch die Risse werden tiefer, Andreas zieht sich immer mehr von Åsa zurück, konfrontiert sie mit für sie aus dem Nichts kommenden Vorwürfen aus seiner Kindheit und Jugend. Bis die Situation eskaliert und Andreas Åsa den Kontakt verbietet – zu ihm, zu Josefin und zu seinem Sohn. Åsas Welt liegt in Trümmern, sie, die ihr ganzes Leben erst auf ihren Sohn und nun auf ihren Enkel ausgerichtet hat, ertrinkt in der Einsamkeit. Wie konnte es nur so weit kommen?
In »Schwiegermutter« macht Moa Herngren, was sie am besten kann: Sie lässt uns tief eintauchen in die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen und entspinnt ein feinfühlig wie spannend erzähltes Familiendrama, das fernab von Schwarz und Weiß das Bild einer Mutter-Sohn-Beziehung zeichnet – in allen Grautönen. Nach und nach, aus den Perspektiven der Beteiligten, entwirren wir, wie es zum Bruch zwischen Åsa und Andreas kam. Hier ist niemand nur böse, hier ist niemand nur gut, hier sind alle zutiefst menschlich. Wir fühlen uns in jede uns gebotene Perspektive ein, verstehen und verstehen nicht, werden mit den Figuren wütend und traurig. Und doch, dessen bin ich mir beim Lesen durchweg bewusst – und auch das ist die Kunst von Herngren –, liest jede*r »Schwiegermutter« beeinflusst vom eigenen Background, der eigenen Familiensituation. In meinem Fall bedeutet das: Ich hatte meine Schwierigkeiten mit Åsa – von Anfang an und bis zum Ende hin. Diese Frau ist ein Synonym für Übergriffigkeit und toxische Fixierung auf das Leben ihres (Enkel-)Kindes als Weg zur Erfüllung des eigenen Glücks. Gesund ist das nicht, was Åsa da tut und schon immer getan hat. Ich kann ihre Beweggründe auf gewisse Weise nachvollziehen, manche Missverständnisse, aus denen sie sich nicht mehr rausmanövrieren konnte, taten mir aufrichtig leid für sie. Aber im großen Ganzen? Wundert es mich zutiefst, dass Andreas nicht schon viel früher die Reißleine gezogen hat. Eine Befreiung aus dieser ungesunden Mutter-Sohn-Beziehung schien längst überfällig. Nun kann man sicherlich darüber streiten, wie man es findet, den Großeltern den Kontakt zu den Enkelkindern zu verbieten, nur weil man selbst ein schwieriges Verhältnis zu den eigenen Eltern hat. Dieses Thema aus allen Perspektiven und unter allen Facetten zu betrachten und sich mit den eigenen Standpunkten und Werten auseinanderzusetzen, das macht die Kunst von »Schwiegermutter« aus, die für mich in Herngrens vorherigem Roman »Scheidung« sogar noch mehr zum Tragen kam. Eine Leseempfehlung für alle, die sich gern auf psychologisch raffiniert ausgearbeitete Familiendramen einlassen und beim Lesen Menschlichkeit, Konflikte und gute Unterhaltung suchen.
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