Rezension zu »Zwischen zwei Leben« von Minna Rytisalo
»In dir keimte eine Sehnsucht nach Akzeptanz, die gedüngt wurde von romantischen Geschichten und Märchen, und das muss ein Ende haben.«
Jenny Hill befindet sich zwischen zwei Leben. Auf der einen Seite das Leben, das sie soeben verlassen hat: Das Leben als Jenni Mäki, Ehefrau und Mutter zweier Kinder. Jetzt, da die Kinder aus dem Haus sind, hält sie nichts mehr in der schon lange unglücklichen Ehe mit Jussi. Ein schnell geschriebenes »Ich bin weg« auf einem Blatt Papier ist alles, was sie jetzt zurücklässt. Dieser Schritt hat Mut erfordert, Jahre der Überlegungen, der Zweifel. Doch jetzt ist sie dort. Auf der anderen Seite das Leben, das sie soeben betreten hat: Das Leben als Jenny Hill, alleinlebende Frau von 48 Jahren, auf sich allein gestellt. Niemand, um den sie sich kümmern muss. Niemand, auf den sie Rücksicht nehmen muss. Niemand, der etwas von ihr verlangt. Wie ihr künftiges Leben aussehen soll, weiß sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, nur dass sie etwas anderes will als das, was die letzten Jahrzehnte ihr Leben war, das weiß sie genau. Gemeinsam mit ihrer Therapeutin und ihrer exzentrischen Schwester Johanna und nie abgeschickten Briefen an Brigitte Macron erfindet sich Jenny neu. Lernt sich neu und anders kennen. Wagt, endlich zu hinterfragen: ihr Leben, ihre Kindheit und das Heranwachsen als junge Frau. Was es bedeutet, Frau zu sein und Mutter. Wo die Erwartungen der Gesellschaft aufhören und sie – die echte Jenny – anfängt. Beobachtet und unterstützt wird Jenny auf ihrem Weg von den Ajattaras, einem Chor weiblicher Märchenfiguren – objektifiziert und instrumentalisiert, um ein Weiblichkeitsideal zu transportieren –, doch in der Unendlichkeit frei, rebellisch, leidenschaftliche Kämpferinnen für weibliche Selbstermächtigung. Scharfsinnig, gehässig und einfühlsam beobachten und kommentieren sie Jennys Schritte in ein Leben frei von den Erwartungen anderer.
»Wir missverstandenen und durch Geschichten erniedrigten Frauen bilden in dieser anderen Wirklichkeit einen ganzen Chor, und hier haben wir die Freiheit, zu sein, wer wir sind, und zu sagen, was wir wollen.«
»Zwischen zwei Leben« ist keine gewöhnliche Selbstfindungsgeschichte. Dieser Roman ist zutiefst feministisch und feminin – kämpferisch und zart. Keine Gegensätze, sondern perfekte Verschmelzung. Die Akzeptanz aller selbstgewählter Formen des Frauseins. Der Roman bricht Rollenerwartungen auf, spielt mit Gegensätzen, wechselt zwischen Poesie und Erzählung, ist kraftvoll und leise. Es ist Jennys Geschichte, aber auch die Geschichte vieler Frauen. Jenny googelt »wie verlässt man seinen Mann« und erhält knapp 4 Millionen Ergebnisse. Es ist die Geschichte der Ajattaras, der Märchenfiguren, die Generationen von Mädchen in ihren Vorstellungen geprägt haben, wie Liebe, Romanik, Beziehung und Frausein auszusehen hat. Hier kommen sie zu Wort, Dornröschen, Rapunzel und die anderen, erhalten sie die Gelegenheit, ihr Narrativ zu erzählen. Sie begleiten Jenny auf ihrem Weg, beobachten, versuchen zu unterstützen, kommentieren und dokumentieren Jennys Entwicklung – und erzählen dabei anhand ihrer eigenen Erfahrungen eine zeit- und raumübergreifende Geschichte davon, was es heißt, Frau zu sein. Zum ersten Mal in ihren 48 Lebensjahren ist Jenny wirklich ehrlich – zu sich, mit sich, über ihre Rolle in der Welt. Um frei zu sein. Zu leben und altern und zu sein, wie sie möchte. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Jenny ist noch nicht dort, aber sie ist auf dem Weg. Und wir begleiten sie dabei. »Zwischen zwei Leben« ist eins dieser seltenen, besonderen Bücher, die nach dem Lesen noch lange bleiben.
»Du hättest dir nie Gedanken machen müssen, wem du taugst. Auf der Welt gibt es viel mehr.«
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