Rezension zu »Botanik des Wahnsinns« von Leon Engler

»Wovon wir nicht sprechen können, darüber müssten wir schreiben. Denn Verrücktheit, das ist der gerissene Faden des Gedächtnisses. Wer nicht mehr erzählt, verschwindet. Hinausgeworfen aus dem Haus der Sprache.«

Der Weg für Leon Englers namenlos bleibenden Ich-Erzähler ist vorgezeichnet: die Psychiatrie scheint unausweichlich. Alles beginnt mit der Zwangsräumung der Wohnung seiner Mutter, bei der die Zeugnisse seiner Familiengeschichte durch eine Verwechslung unwiderruflich zerstört werden. Und alles beginnt so viel früher. Der Erzähler blickt auf die Trümmer, auf die Lücken in seiner Familiengeschichte. Lücken, die nicht nur durch diesen materiellen Verlust entstanden sind, sondern so viel tiefer reichen – ein Stammbaum des Wahnsinns, psychische Erkrankungen, die sich wie der rote Faden durch seine Familie ziehen: die bipolare Großmutter mit zwölf Suizidversuchen, der Großvater dank seiner Schizophrenie Stammgast in der Wiener Psychiatrie, die Mutter Alkoholikerin und der Vater depressiv. Welche psychische Krankheit ihn wann erwarten wird, ist die Frage, die sich der Erzähler immer wieder stellt – bis er erkennt, dass er beim Warten auf das unvermeidlich scheinend Schlimme vergessen hat, zu leben. Als heimatloser Vagabund blickt er auf viele Länder zurück, alles nur Zwischenstationen, nie Heimat. Dann findet der Erzähler seinen Weg genau an den Ort, vor dem er im Grunde immer geflohen ist: die Psychiatrie – doch nicht als Patient, sondern als Psychologe. Die Auseinandersetzung mit der Psychologie und der Umgang mit den Patient:innen lehren ihn viel. Stück für Stück setzt er sie für sich zusammen, die Geschichte seiner Familie.

»Die Kluft zwischen Sprache und Welt ist groß; besonders, kommt mir vor, in der Welt der Psychiatrie. Und manchmal lassen die Worte in den Nähten nach.«

»Botanik des Wahnsinns« hat mich verzaubert. Denn dieses – wie ich mit Blick auf Englers Vita stark vermute – autofiktionale Buch ist im besten Sinne des Wortes Literatur. Eine unglaublich persönliche und zugängliche Literatur, dabei gleichzeitig auf hohem stilistischen Niveau. Literatur voller Poesie in und hinter den Worten, voller Herz und Erzählung, Feingefühl und einem feinen Blick auf die großen und kleinen Fragen des Lebens. Was Engler seinen Lesenden hier bietet, ist ein reflektierter, ehrlicher Blick auf psychische Gesundheit und ein Blick hinter die Kulissen. Wir erfahren viel über das Leben, über Familie, über den Umgang mit psychisch Erkrankten und darüber, was es (nicht) heißt, »normal« und »gesund« zu sein. Gleichzeitig ist dies eine Art Familienanamnese, Fragen nach Zugehörigkeit und Identität, nach dem Platz im Leben – und eine spielerische Erkundung davon, den Kreislauf zu durchbrechen, der sich von Generation zu Generation durch die Familiengeschichte zu ziehen scheint. Gefühlvoll zeichnet Englers Erzähler nach, wie seine Eltern die Leben ihrer Großeltern wiederholt haben. Ein Roman über über Klassenunterschiede, über Eltern-Kind-Beziehungen, über Lebensfragen. Die Erzählung ist passagenweise schmerzlich, manchmal schelmisch, immer ehrlich. Ich habe das Gefühl, hier Zugang zu etwas Echtem bekommen zu haben, eine subjektive Version einer Familiengeschichte, eine Nach- und Neuerzählung für Englers Erzähler als Versöhnung mit der Vergangenheit – und als Chance für eine eigens gestaltete Zukunft. »Botanik des Wahnsinns« ist nah dran am Leben und ein starkes Debüt, das mich neugierig macht auf alles, was wir von Leon Engler zukünftig noch erwarten können.

»In der Ratlosigkeit begegnen wir einander. Dort wird es interessant, existenziell. Auch ich habe keine Gebrauchsanweisung fürs Leben.«




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Daten zum Buch
Titel: Botanik des Wahnsinns
Autor*in: Leon Engler
Sprache: Deutsch
Verlag: DuMont
Hardcover | 208 Seiten | ISBN: 978-3-8321-0053-8

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