Rezension zu »Medulla« von Verena Güntner

Drei Paare und ein heißer wie verheißungsvoller Berliner Sommer, an dessen Ende nichts mehr sein wird wie es vorher war. Siv und Jan führen eine offene Beziehung. Sie ist Anfang vierzig, er feiert seinen 50. Geburtstag. Dass die beiden keine Kinder wollen, ist eine bewusste Entscheidung – an der sich für Siv auch nichts ändert, als sie unerwartet schwanger wird. Doch Jan hadert mit Sivs Entscheidung. Er fühlt sich ausgeschlossen, ohne Mitsprache und fragt sich, ob sie beide diese Chance nicht doch nutzen sollten. Leyla und David hingegen, Bekannte der beiden, leiden schon lange unter ihrem unerfüllten Kinderwunsch. Sie haben alles versucht, wieder und wieder, und langsam rennt ihnen die Zeit davon. Als sie bereits nicht mehr an ein Wunder glauben, wird Leyla schwanger. Während David im Glück ist, stellt Leyla unter Schock fest, dass der Traum vom Muttersein, an dem sie so lange verbissen festgehalten hat, jetzt – wo er plötzlich in greifbarer Nähe ist – nicht mehr das ist, was sie vom Leben möchte. Sie will die Kontrolle über ihren Körper zurück. Siv erkennt, was in Leyla vor sich geht, und steht ihr unterstützend zur Seite. Esther, Leylas Arbeitskollegin, ist bereits im dritten Trimester ihrer Schwangerschaft. Während sich ihr motivierter und begeisterter Partner Jacob intensiv auf seine Rolle als Vater vorbereitet und das Kind am liebsten selbst austragen würde, fühlt Esther – nichts. Keine Vorfreude, keine Liebe, nur Unmut ob der vor ihr liegenden Verantwortung und den Wunsch, der Bauch und das Kind darin mögen sich in Luft auflösen. Drei starke Frauen, die durch die Schwangerschaft die Kontrolle über ihre Körper verloren haben – und sich diese kompromisslos zurückholen. Drei Männer, die die Kontrolle verlieren von der sie dachten, sie hätten sie über ihre Partnerinnen – und dabei mehr als nur ins Straucheln geraten. Drei Frauen, von denen eine am Ende des Sommers ins Wasser gehen wird, um den ganzen Tag zu treiben und aus ihrem bisherigen Leben auszubrechen – und sich vor ihrem Partner in Sicherheit zu bringen. Siv, Leyla, Esther – wer wird es sein?

Unterbewusst rabe ich schon lange auf ein Buch wie »Medulla« gewartet. Auf ein derart kompromissloses, ehrliches, durch und durch weibliches Erzählen. Drei Frauen – Siv, die keine Mutter werden will, auch nicht, als sie ungewollt schwanger wird, Leyla, die immer Mutter werden wollte und jetzt, da sie schwanger ist, ihre Meinung ändert, Esther, die sich für ihr Kind entschieden hat und es am Ende der Schwangerschaft bereut. Und Männer im Leben der drei Frauen, mit eigenen Wünschen, die an der Akzeptanz dessen Scheitern, dass auch ein mit ihrem Kind schwangerer Körper noch immer der Frau gehört, die schwanger ist. Drei Frauen, die sich zu ihren Bedingungen die Kontrolle zurückholen. Drei Männer, die daran zerbrechen und damit so umgehen, wie sie es gelernt haben – mit unkontrollierten Emotionen, mit dem Versuch, sich die Kontrolle mit Zwang zurückzuholen, mit besitzergreifendem Verhalten. Verena Günter hat hier ein nicht nur ein faszinierendes Porträt über moderne Beziehungen geschaffen, sondern darüber hinaus eine pointierte, scharfsinnige Betrachtung unserer Gesellschaft – gelebte, unbewusste Misogynie, die Betrachtung des schwangeren Körpers als Allgemeingut, der Rückfall in patriarchale Verhaltensmuster der Männer im Zuge des vermeintlichen Kontrollverlustes, weibliche Selbstermächtigung und das Brechen mit noch immer als Tabu konnotierten Themen wie Schwangerschaftsabbrüche, bewusste Kinderwunschlosigkeit, das Konzept der »Mutterinstinkte«, Regretting Motherhood, dem Ausbrechen aus der gesellschaftlichen Norm. In »Medulla« agieren Frauen. Selbstbewusst und selbstbestimmt erobern sie sich ihre Körper zurück, verweigern sich ihren Lebensentwürfen und erhalten damit weit mehr – eine Freiheit fernab der Konvention. Ein Roman voller Gefühl und Verständnis, Humor und Kritik – ein großer Lesespaß und ein Buch, das ich von der ersten bis zur letzten Seite kaum aus der Hand legen konnte und wollte.




..................................................................

Daten zum Buch
Titel: Medulla
Autor*in: Verena Güntner
Sprache: Deutsch
Verlag: DuMont
Hardcover | 240 Seiten | ISBN: 978-3-8321-8167-3

Kommentare