Rezension zu »Gym« von Verena Keßler
»Im Grunde war es ganz simpel. Ein fitter, ein straffer, ein starker Körper war vor allem eins: Arbeit. Je mehr man investierte, desto schneller kam man an sein Ziel, alles was es dazu brauchte waren Disziplin und Willensstärke.«
Willkommen im MEGA GYM, dem Ort, an dem Träume wahr werden können. Schließlich braucht es dafür nur Zeit, Hingabe, eiserne Disziplin. Unsere namenlose Ich-Erzählerin braucht einen Job. Dringend. Nach einer intensiven Down-Phase in ihrem vorherigen Overachiever-Job in der Finanzbranche ist das Ersparte langsam aufgebraucht. Zurück kann sie nicht mehr, also muss etwas Neues her. Kurzerhand bewirbt sie sich als Tresenkraft im Fitnessstudio MEGA GYM – und bekommt, Notlüge sei Dank, unerwartet den Job, auch wenn ihr Äußeres weder MEGA noch GYM schreit. Denn was erwartet mensch sich auch vom körperlichen Zustand einer Mutter, die eben erst ein Kind zur Welt gebracht hat? Ja, manchmal muss frau eben lügen, um ihre Ziele zu erreichen. Dass das langfristige Faken einer Mutterschaft einiges an Arbeit erfordert, das findet sie nach Arbeitsantritt auf dem harten Weg heraus. Umgeben von definierten und schönen Körpern fühlt sie sich jedoch bald unwohl – und beginnt, zu trainieren. Erst halbherzig, doch dann packt sie ihr Ehrgeiz. Die Reaktionen auf ihren sich verändernden Körper lösen einen Rausch aus, dem sie sich bald nicht mehr entziehen kann. Und dann ist da Vick, die seit kurzem im Studio trainiert – Bodybuilderin, stark, mächtig, ein Körper wie ein Statement, der über jeglicher Wertung steht. Ab diesem Moment gibt es für die Protagonistin nur noch ein Ziel: Vicks Körper nicht nur möglichst nahe zu kommen, sondern sie zu übertreffen. Obsessiv, wütend, explosiv zwingt sie Geist und Körper über immer neue Grenzen hinweg – und entfaltet dabei eine intensive Sucht, die die Grenzen des Gesunden bald verschwimmen lassen wird …
»Es faszinierte mich, wie sehr ich mittlerweile dem Idealbild glich, das ich aus Zeitschriften, dem Fernsehen, von Instagram kannte. Und gleichzeitig wusste ich, wie fragil dieses Bild war, eine Momentaufnahme, die permanente Bemühungen brauchte, um sie aufrechtzuerhalten.«
Dieses Buch! Eigentlich reicht das ja, damit ist im Wesentlichen alles gesagt. Aber: Was war das bitte für ein wilder Leserausch?! Was für eine Sogwirkung?! Was für ein suchtauslösendes Buch?! Ich war begeistert, schockverliebt, hin und weg – ab Seite eins. Und konnte es gerade so zum Essen weglegen, aber wirklich nur von der ersten bis zur letzten Gabel. Davor, danach, währenddessen: existierte nur noch »Gym«. Und dann war er vorbei, dieser Rausch, und ich: ein bisschen verloren in der Realität, mit unbändiger Lust auf Sport und einfach nur absolut begeistert von dem, was Verena Keßler da geschrieben hat. Wie hat sie es nur geschafft, diese Wut, diese Power, diesen Rausch, den ihre Protagonistin erlebt, beim Lesen direkt auf ihre Leser*innen zu übertragen? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass das ganz großes Kino war. Denn »Gym« ist nicht nur auf beste Weise unterhaltsam, sondern auch laut, stark, wütend, kraftvoll, lustig, ernst, kritisch, feministisch, pointiert, everything you want it to be. Dabei ist »Gym« sowohl klar und direkt als auch voller Interpretationsraum. Wie ich »Gym« gelesen habe: Als das überspitzte Abbild einer Hustle-Culture, als Sucht nach Selbstoptimierung, als spannendes Gesellschaftsportrait, als weibliche Wut auf patriarchale Strukturen, auf das Ausbrechen aus dem Male Gaze des weiblichen Körpers indem der Körper zu etwas Anderem, Mächtigerem wird, als patriarchal anerlerntes Konkurrenzdenken durch die obsessive Versteifung der Protagonistin auf einzelne Frauenfiguren und dem Wunsch, sie zu werden, besser als sie zu werden. Es ist mit Abstand eins der coolsten, mutigsten, lautesten, eigenwilligsten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe. Let’s go to the gym!
»The hardest part of going to the gym, is going to the gym.«
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