Rezension zu »Da, wo ich dich sehen kann« von Jasmin Schreiber
Liv hat ihre beste Freundin und Quasi-Schwester verloren. Brigitte und Per haben ihre Tochter verloren. Die neunjährige Maja hat ihre Mutter verloren. Verloren? Nein. Grausam entrissen wurde Emma ihnen, ermordet von ihrem Mann und Majas Vater. Ein Femizid. Die Folge jahrelanger häuslicher Gewalt und emotionalen Missbrauchs. Versteckt geblieben, schleichend, unauffällig. Würde Emma noch leben, hätten Liv, Brigitte und Per bemerkt, was Emma angetan wurde, wenn sie die richtigen Fragen im richtigen Moment gestellt hätten? Hätte Maja dann noch ihre Mutter, anstatt einen Vater im Gefängnis, Albträume und Panikattacken, weil sie ihre Mutter tot auf dem Küchenboden fand? Gedanken in Endlosschleife, die die vier auf jedem Schritt und Tritt verfolgen, sie lähmen und in ihrer Trauer und Selbstvorwürfen gefangen halten. Besonders schlimm trifft es Maja, die sich nicht mehr im Spiegel anschauen kann, weil sie zu viel von ihrem Vater in sich selbst erkennt. Die überfordert ist von ihren Gefühlen für ihren Vater und zerfressen von Schuldgefühlen – macht es sie nicht auch zum Monster, ein Monster zu lieben? Besser gar nicht an ihn denken und erst recht nicht an ihre Mutter, die mit Sicherheit böse auf sie ist wegen der schlimmen letzten Worte, die sie ihr wütend an den Kopf warf. Majas einziger Lichtblick ist Liv, die ihr die Sterne und das Universum näherbringt. Vielleicht lebt Emma ja noch, irgendwo da draußen, in einem Paralleluniversum. Vielleicht hat Maja irgendwo in den Weiten des Weltalls noch eine Mutter, Liv ihre Freundin, Brigitte und Per ihre Tochter. Ein Hoffnungsschimmer, an den Liv und Maja sich klammern und sich zusehends mehr aneinander festhalten.
»Da, wo ich dich sehen kann« ist ein Roman der Hinterbliebenen. Denn wenn ein Mensch stirbt, bleibt ein schwarzes Loch zurück. Ein schwarzes Loch voller Erinnerungen, Liebe ohne Empfänger*in und was wäre wenn’s. Im Fall von Emmas Tod umfasst dieses schwarze Loch auch Schuldgefühle, Selbstvorwürfe, Hilflosigkeit, Fassungslosigkeit, Wut, Verzweiflung, Angst … Dass Frauen so sterben wie Emma ist leider keine Seltenheit, sondern Alltag und bittere Realität. Durch die Hände von Männern wie Frank. Durch das Leben im Patriarchat. Doch um Frank geht es hier nicht, als Täter bleibt er Randfigur. Wir wissen schon alles, was wir über Frank wissen müssen. Was Jasmin Schreiber interessiert, sind die Menschen, die zurückbleiben. Die Freund*innen, Eltern – und Kinder. Die Leben, die weitergehen, obwohl ein anderes endet. Wie lebt mensch weiter? Wie verarbeitet man ein Trauma wie dieses? Durch die Perspektiven von Liv, Emma, Per und Brigitte erhalten wir einen kleinen Eindruck davon, sind mittendrin im Gefühlschaos, im Auf und Ab, in den schlimmsten Momenten und in den Momenten der Hoffnung. Es ist schmerzhaft, es ist persönlich, es ist ehrlich, es ist berührend und es ist wichtig. Ebenso wie Emmas Geschichte, die wir in Rückblenden erleben. Eine Perspektive, die auf andere Weise berührt – wie sie nach und nach gebrochen wird, wie ein Keil zwischen sie und Maja getrieben wird, wie Maja instrumentalisiert wird, um Emma klein und in Schach zu halten. Ein schleichender Prozess und eine leise Antwort auf die gern gestellte Frage, wie es so weit kommen konnte, warum frau nicht einfach gegangen ist.
So bleibt mir »Da, wo ich dich sehen kann« in Erinnerung: als Ermutigung und Aufforderung, aufmerksam zu sein, genau hinzuschauen, sich zu trauen, auch unangenehme Fragen zu stellen. Als Mahnmal an unsere Gesellschaft, häusliche Gewalt, Missbrauch und Femizide nicht zu bagatellisieren, nicht als »Beziehungstaten« kleinzureden, sondern als das zu sehen, was sie sind: ein im Patriarchat gezüchteter Frauenhass, der Leben und Familien zerstört. Als leise Erinnerung, dass wir uns nicht in was wäre wenn’s verlieren sollten, weil wir nicht mehr ändern können, was geschehen ist – aber daraus lernen können, wie wir in Zukunft handeln. Große, wichtige Leseempfehlung!
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