Rezension zu »Jahre ohne Sprache« von Ann Esswein
Mit ihrer Wahlfamilie lebt Natascha, die sich inzwischen Nao nennt, in einer besetzten Knopffabrik. Es ist ein einfaches Leben, erfüllt mit Gelegenheitsjobs. Ein Leben am Rand der Gesellschaft, außerhalb der Norm. Eine Gruppe, die kollektiv beschlossen hat, Geschlecht auszuradieren. Ein Ort der Gleichgesinnten, der theoretischen Sicherheit. Dich die Unsicherheit existiert weiter in Natascha. Existiert seit fünf Jahren. Seit dem Moment, als ihre Jugend in einer warmen Sommernacht geendet hat, dort im kleinen Ort in der Provinz. Damals, als die Hand auf ihrem Oberschenkel lag. Damals, als die Hand mehr tat als auf ihrem Oberschenkel zu liegen. Damals, als Natascha ihre Sprache verlor für das, was passiert ist, die Hand getan hat. Damals, als Natascha in ihrer Sprachlosigkeit ihren besten Freund verlor. Als Natascha ging und nie wieder zurückkam. Seit Jahren verfolgt sie dieser Sommer, verfolgt sie die Hand. Bis Natascha beschließt, sich ihre Sprache, ihre Stimme zurückzuholen. Selbst, wenn sie dafür zurück an den Ort muss, an dem alles begann – und die Hand noch immer lebt. An den Ort, an dem die Erinnerungen lauern. An die Hand, ihren besten Freund, an das Zerbrechen ihrer Familie in dem Moment, als die Mutter ging und der Vater sich fortan in Schweigen hüllte.
»Jahre ohne Sprache« ist ein komplexer Roman, fragmentarisch, erzählerisch spielend, themenumfassend und doch unfassbar ernst. Es ist eine Erzählung darüber, wie schnell die unbeschwerte Jugend der Scham und der Angst weicht, ab dem Moment, an dem zum ersten Mal ein Mann den Körper einer jungen Frau für seine Befriedigung, seine Lust nutzt – rücksichtslos und gewaltsam. Eine Erzählung über die Sprachlosigkeit, die folgt. Über die Unklarheit, welches Wort beschreibt, was passiert ist. Wie deutlich muss ich Nein sagen, damit mein Nein als solches wahrgenommen wird? War ich zu leise, zu uneindeutig, wurde mein Nein deswegen ignoriert? Es ist eine Erzählung über ein unverarbeitetes, ungreifbares Trauma, das doch allgegenwärtig ist. Und es ist die Erzählung einer Selbstermächtigung, eine Suche nach dem eigenen Narrativ, nach der eigenen Stimme. Nach Worten für das Geschehene. Vielleicht war es mir ein wenig zu uneindeutig in der Sprache – auch wenn ich mir natürlich des schriftstellerischen Elements bewusst bin, genau damit zu spielen und die Leser*innen fühlen zu lassen, was die Protagonistin im Inneren erlebt. Vielleicht hätte ich mir ein wenig mehr Einblick in Nataschas Wahlfamilie gewünscht, um die Verbindung der Geschichte in Gänze zu verstehen und wirken zu lassen. So habe ich das Gefühl, dass mir einiges verborgen blieb, das mir das Buch auf andere Weise noch näher hätte bringen können. Nichtsdestotrotz: Ein Buch, das sicher nicht für alle das Richtige ist, aber dennoch leise und auf seine ganz eigene Art eine wichtige Geschichte erzählt und eine Stimme für die Sprachlosigkeit vieler Frauen* sein kann.
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