Rezension zu »Madwoman« von Chelsea Bieker
»Wir erlösen kranke Tiere von ihrem Leid, damit sie keine Qualen erleiden, damit sie den Rest der Gruppe nicht anstecken. Männer lassen wir leben.«
Clove ist glücklich. Auf den ersten Blick. Ein gutes Leben in Portland, zwei tolle kleine Kinder, ein guter Ehemann und die Möglichkeit, ihren Traum vom Schreiben zu verfolgen. Ein Paradebeispiel einer funktioniernden Kernfamilie. Doch auf den zweiten Blick türmen sich die Kreditkartenrechnungen ihrer ausufernden Shoppingtouren. Auf den zweiten Blick versucht Clove, alles zusammenzuhalten, eine Fassade aufrechtzuerhalten, hinter der sich etwas ganz anderes verbirgt. Etwas, das nie wieder ans Licht kommen soll. Etwas, das Clove mit allem, was sie hat, zu vergessen und zu leugnen versucht. Ihre Vergangenheit. Ihre Kindheit. Ihre Familie. Doch ebendiese Vergangenheit findet einen Weg in Cloves Gegenwart. Ungefragt, ungewollt, drohend liegt eines Tages ein Brief aus einem Frauengefängnis im Briefkasten. Und mit ihm Erinnerungen, Emotionen, Angst. Während Clove verzweifelt versucht, die bröckelnde Fassade um jeden Preis aufrechtzuerhalten, verschwimmen Vergangenheit und Gegenwart bald zu einem gefährlichen Strudel, der Clove mitzureißen droht. Denn der einzige Weg nach vorne führt zurück. Zurück in Cloves Kindheit, zu ihrem gewalttätigen Vater, ihrer wehrlosen Mutter und zu einem Tag, der alles für immer verändert hat.
»Madwoman« ist eins der Bücher, die Zeit brauchen, um verarbeitet zu werden. Und so schreibe ich die Rezension erst drei Monate nach dem Lesen, weil ich einfach nicht wusste, wie ich der Geschichte gerecht werden kann. Ich brauchte zeitliche Distanz, um meine Gedanken zu sortieren, denn das Buch hat mich mitgerissen wie eine Sturmflut, mitten hinein in die Abgründe von Cloves Leben. Mitten hinein die Zerrissenheit von Cloves Seele, zwischen damals und heute, Angst und Mut, Perfektionswut und Realität. Denn Clove will alles richtig machen, eine perfekte Mutter sein, eine gute Mutter sein, ihren Kindern die perfekte Kindheit ermöglichen. Die Familie erschaffen, die ihr selbst als Kind verwehrt blieb. Dass sie dabei überkompensiert ist vorprogrammiert. Dass augenscheinliche Perfektion einen Preis hat, ist absehbar. Dass Clove, die sich nie mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt hat, nur einen Windhauch braucht, um ins Straucheln zu kommen, ist unvermeidbar. Und so beobachten wir Clove dabei, wie alles zerbricht, wie sie zerbricht. An der Last der Vergangenheit, an unverarbeiteten Traumata, an einem Bild von sich selbst, das erfunden ist und einem wirklichen Blick nicht standhalten kann. In Rückblenden erleben wir Cloves Vergangenheit, die Gewalt, den Missbrauch, die Vernachlässigung, die Angst, das schwierige Verhältnis nicht nur zum Vater, sondern auch zur Mutter. Feinfühlig und sensibel zeichnet »Madwoman« ein authentisches, schmerzendes Bild einer Frau, die gefangen ist in ihren Erinnerungen und in der unweigerlichen Konfrontation mit ihrer Vergangenheit und sich selbst doch die Kraft und Resilienz findet, sich nicht von den Wunden definieren zu lassen, die ihre Kindheit hinterlassen haben. Für eine Zukunft, für ihre Kinder, für sich selbst. Eine bewegende Geschichte über die langfristigen Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf Überlebende und über die Wichtigkeit, Traumata aufzuarbeiten.
»Durch Gewalt werden wir Frauen so kleingemacht, dass wir dankbar für Dinge sind, für die wir gar nicht dankbar sein müssten. Und selbst wenn wir denken, sie hinter uns gelassen zu haben, blicken wir zurück und erkennen, dass sie sich doch auf jede Entscheidung ausgewirkt haben, die wir je getroffen haben.«
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